Nachhilfe Kapitel 2

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Am nächsten Nachmittag wartete ich wie gewollt vor dem Raum. Ich hatte zwar überlegt, nicht hin zu gehen, aber vor den Konsequenzen hatte ich dann doch mehr Angst. Auch wenn ich mich mit Kopfschmerzen locker hätte krankmelden können. Ich hatte mich die ersten sechs Stunden schon kaum konzentrieren können und mehr durchgequält als alles andere und wollte am liebsten nur nach Hause. Jetzt noch fünfundfünfzig Minuten Chemie würde ich nicht aushalten. Fünf Minuten später kam dann auch endlich mal Frau Stephan und der neue. Wir hatten uns gestern und heute kaum gesehen und wenn waren wir uns aus dem Weg gegangen. „ So sie reißen sich die nächsten fünfundvierzig Minuten bitte beide zusammen und bauen keine scheiße. Haben Sie mich verstanden?" Wir beide nickten und sie schloss uns die Tür auf und ging dann. Wir ließen uns an einem Tisch gegenüber nieder und dann schwiegen wir. Ich wippte nervös mit dem Fuß auf dem Boden rum und hielt meinen Blick auf die Tischplatte gesenkt, die Augen geschlossen. So wurden die Kopfschmerzen einigermaßen erträglich. Ich spürte, wie er mir etwas in die Hand drückte und öffnete meine Augen. Es war das kleine gelbe Reclam Heft, was ich ihm gestern in Deutsch geliehen hatte. Wortlos nahm ich es an mich und packte es in meine Tasche. „ Also durch schweigen lern ich auch nichts. Wenn du willst geh und ich sag Frau Stephan, ich würde es bei dir nicht verstehen, weil du viel zu kompliziert erklärst.", schlug er viel sanfter vor, als ich es erwartet hätte. Ich schüttelte nur mit dem Kopf. Das würde sie mir eh nicht durchgehen lassen. Augen zu und durch. „ Such ne Aufgabe raus, die du nicht verstehst.", murmelte ich und sah ihn zum ersten Mal richtig in die Augen. Er strahlte eine unglaubliche Ruhe aus, wie ich es eigentlich nur von Stegi kannte. Er lächelte nur sanft und hielt mir dann ein Blatt unter die Nase. Proteine und Peptide. Ich laß mir die erste Aufgabe durch. Zeichen sie das Polypeptid aus den drei Aminosäuren Alanin, Cystein und Serin in der Strukturformel und kennzeichnen sie die Peptidbindungen. Im Anhang dann noch die Angabe, aus welchen Resten die einzelnen Sequenzen bestehen. Ich musste die Aufgabe drei mal lesen, ehe ich sie dank meiner Kopfschmerzen endlich im Kopf behalten konnte. So und was genau verstand er daran jetzt nicht? Daran war doch eigentlich nichts unklar. Ich blickte wieder zu ihm auf, sah dass er mich immer noch, oder wieder freundlich anlächelte, aber gleichzeitig auch wartend ansah. An einem lächeln versuchte ich mich gar nicht erst, es würde nur gequält wirken. „ Wo genau ist dein Problem bei der Aufgabe?", fragte ich unsicher und mit dünner Stimme nach. Mein Gott, ich konnte mich echt anstellen. Fehlt nur noch, dass ich Anfang zu stottern. Mit Kopfschmerzen sollte ich echt mit keinem Fremden reden. Und auch ohne nicht. „ Also was ne Peptidbindung ist weiß ich, denke ich zumindest. Ob ich die aus dem Kopf hinbekomme weiß ich nicht. Aber ich hab kein Plan, wie die reagieren, sodass ein Polypeptid daraus wird.", erklärte er mir sein Problem. Oh man, das fing ja schon mal gut an. Wenn er nicht mal das sich merken konnte, dann wollte er nicht lernen. Das war kein Unwissen, sondern reine Faulheit. „ Kannst du die Sequenzen einzeln zeichnen?", bat ich ihn und ließ ihn dann erstmal machen. Es haperte schon bei der Grundstruktur des Moleküls. Am liebsten hätte ich die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Das war bei allen die gleiche. Naja jede Minute in der er beschäftigt war, war eine Minute, in der ich nicht reden musste. Als er dann die richtige Struktur hatte ging der Rest dann zum Glück schneller. In der Zeit, die er zum zeichnen brauchte, hatte ich die Augen geschlossen. „ So ist das richtig?", fragte er mich und drehte das Blatt um, sodass ich besser sehen konnte, was er gezeichnet hatte. Ich starrte das Blatt sicher zwei Minuten an, bis ich mir sicher war alle Fehler gefunden zu haben. Mein Kopf pochte mittlerweile fast unerträglich, sodass ich mich kaum konzentrieren konnten. Außer den fehlenden Außenelektronen beim Schwefel, konnte ich keine Fehler ausmachen. Glaubte ich zumindest. „ Ok du fängst am N-terminalen Ende an mit Alanin. Zeichne das mal und lass bei der Carboxylgruppe das OH Weg." Er tat was ich von ihm wollte. Ich schnappte mir derweil einen Bleistift von ihm und schrieb an den Rand ein krakeliges OH. Gott jetzt zitterte auch schon meine Hand. Nachdem er fertig war, sah er mich prüfend an. Ich nickte zu Zeichen, dass es richtig war. Ich hatte schon als er gezeichnet hat angefangen nach Fehlern zu suchen, damit es im Nachhinein nicht so lange dauerte. „ Nimm die Aminogruppe des Cystein und häng die an das C. Das OH weglassen. Der Stickstoff ist direkt mit dem Kohlenstoff verbunden, deswegen fällt da ein H ab.", erklärte ich weiter und zeichnete ein H und ein zweites OH an den Rand. Meine Stimme wurde langsam fester, auch wenn ich immer noch unglaublich unsicher war und mich gar nicht wohl fühlte. Was mir sofort auffiel war, dass er die Doppelbindung am C-Atom vergaß. Dass ich das überhaupt noch erkannte, trotz meiner Kopfschmerzen, war erstaunlich. Ich deutete mit der Spitze des Bleistiftes dort hin und er verbesserte es sofort, ohne nach zu fragen. Später merkte ich, dass er auch die Außenelektronen am Stickstoff vergessen hatte und wies darauf hin. „ Selbes auch mir den Serin. Es fällt ein H Atom ab und die COOH Gruppe bleibt bestehen. Das ist dann dein C-terminales Ende." Das H zeichnete ich wieder an den Rand, während er das Polypeptid vervollständigte. Diesmal musste ich nichts verbessern. Anstrengen tat es mich trotzdem unglaublich. „ So und was bringt dein Gekritzel am Rand?", fragte er berechtigter Weise nach. „ Zum überprüfen, ob du die richtige Anzahl an Teilchen abgegeben hast. Es bleiben zwei Wasser übrig. Wenn du zu viel oder wenig hast, weißt du, dass irgendwo ein Fehler ist. Kannst es aber auch weg lassen. Ich rate dir auf jeden Fall, die einzelnen Sequenzen vorher zu zeichnen. Du hast übrigens vergessen, die Peptidbindung einzuzeichnen.", erinnerte ich mich. Er verdrehte nur die Augen und machte einen Kringel um das C mit der Doppelbindung und das N mit dem H. „ Besser?" Ich nickte nur. „ Sag mal bist du immer so schüchtern? Du sagst nur das, was wirklich nötig ist. Nach dem Motto, bloß nichts preisgeben, der andere könnte mich ja mögen und dann müsste ich mit ihm reden. Mach dich doch mal ein bisschen locker. Ich glaub, dass du wirklich ein netter Typ sein kannst, wenn du dich nicht so zurückziehen und weniger gereizt reagieren würdest." Mir platzte endgültig der Kragen mit dem Typen. Da denkt man einmal, der kann auch halbwegs nett sein und dann kommt so ne scheiße. Wahrscheinlich reagierte ich auch einfach wegen der Kopfschmerzen über. „ Es ist meine Entscheidung und da hältst du dich gefälligst raus. Wenn du Nachhilfe willst, nächste Woche Freitag bei dir. Treffen nach der sechsten am Eingang." Während ich das sagte, schnappte ich mir meine Tasche und flüchtete aus dem Raum. Am liebsten wollte ich meinen Kopf gegen die Wand hauen, so unerträglich waren meine Kopfschmerzen bereits. Zu meinem Pech lief ich genau in Frau Stephan rein. Heute wollte aber auch nichts laufen. „ Es sieht mir nicht so aus, als ob Sie die Nachhilfe schon beendet hätten. Was suchen Sie dann hier?", fragte sie misstrauisch. „ Ich hab starke Kopfschmerzen. Wir machen nächste Woche weiter.", erwiderte ich knapp und wollte gehen. Doch genau dann kam der andere um die Ecke. Bitte lass mich einfach und sag nichts dazu. Aber natürlich war mir das nicht vergönnt. Eventuell hätte ich sagen sollen, dass ich Kopfschmerzen hab und nicht einfach weglaufen. So wirkte es eher, als ob ich vor ihm weglaufen würde. Ein ganz klein wenig tat ich das auch. „ Sag mal so löst du deine Probleme? Indem du abhaust. Für die Art Mensch hätte ich dich echt nicht gehalten." Eine neue Welle Schmerz zog sich durch meinen Kopf und ich kniff die Augen zusammen. Ich hau nicht ab, ich sterbe nur gleich an Schmerzen, wollte ich ihn verbessern, doch es kam kein Wort über meine Lippen. „ Ok was ist hier wirklich los Tobias?", fragte Frau Stephan gereizt und stemmte ihre Hände in die Hüften. Sah man mir nicht an, dass es mir scheiße ging?„ Verdammt mir geht es einfach nicht gut und ich wäre dankbar jetzt nach Hause zu können.", rief ich aufgebracht und ging dann einfach. Mein Kopf dröhnte nur noch mehr vom schreien. Ich presste meine Hand gegen meine Schläfe und bahnte mir dann meinen Weg nach Hause. Zumindest wollte ich das, den ich vernahm Schritte hinter mir und dann legte sich eine Hand auf meine Schulter und drehte mich ruckartig um. „ Wenn du so alle deine Probleme löst, dann ist das echt traurig. Du bist jetzt nicht gerade nett zu mir gewesen und ich hab eigentlich auch keine Lust auf Nachhilfe bei dir. Aber ich kann mich im Gegensatz zu dir zusammenreißen und das nach außen hin nicht zeigen.", fuhr er mich an, was alles nur noch schlimmer machte. Gerade gab er sich aber auch nicht sonderlich Mühe, das zu verstecken. „ Tust du mir den Gefallen und lässt mich los? Mir geht es wirklich nicht gut und würde gerne nach Hause gehen und ne Tablette nehmen.", bat ich leise, fast schon flüsternd, um meine Kopfschmerzen nicht noch zu verschlimmern. Er nahm zumindest die Hand von meiner Schulter, sein Blick deutete mir aber, dass er noch nicht fertig war. „ Sicher das du nicht vor mir wegläufst?", hackte er wesentlich sanfter nach. „ Nein wirklich nicht. Mir geht es schon den ganzen Tag scheiße. Ich will einfach nur nach Hause. Lässt du mich bitte gehen?", bat ich nochmals. Ein sanftes Lächeln zierte seine Lippen und er nickte. „ Na gut. Nächsten Freitag kommst du aber?" Ich nickte ebenfalls schwach und verabschiedete mich dann von ihm. Unglaublich erschöpft machte ich mich endlich auf den Heimweg. Daheim nahm ich nur eine Tablette und legte mich dann hin. Da meine Eltern nicht zuhause waren, schlief ich bis zum nächsten morgen durch. Mir ging es wesentlich besser als gestern, aber ich fühlte mich immer noch ausgelaugt. Und heute wollte ich was mit Stegi machen. Das konnte ja heiter werden.

Nachhilfe Venation FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt