Kapitel 7:

145 8 1
                                    

Ich spüre das Gras unter mir. Das weiche Gras, auf welchem Loki gerade liegt. Und seine Wut, die er für Stephen noch gerade hegte, ist wie weg geblasen. Thor schaut kurz zu mir, bis er über meinen Kopf hinweg sieht und die Augenbrauen zusammenzieht.

Loki steht wieder auf den Beinen und schaut in die gleiche Richtung. Als ich mich umdrehe, erblicke ich ihn. Odin.

Er steht am Rande der hohen Klippe auf dem Gras und schaut zum Meer hinaus. Und er trägt diesmal normale Kleidung; eine Jeans Hose, ein helles Hemd und darüber eine dünne Jacke aus Wolle. Die Luft ist stark und wirbelt um uns herum.

Wir drei gehen langsam auf ihn zu, doch ich bleibe einige Meter hinter Odin und hinter einem niedrigen Felsbrocken stehen. Ich habe so das Gefühl, als sollte ich nicht hier sein. Wieso weiß ich nicht. Aber mir scheint es, als sei dies ein Moment zwischen einem Vater und seinen Söhnen.

„Vater?"

Odin schaut Thor nicht einmal an und hält seinen Blick weiterhin zum Meer gerichtet. Er regt sich nicht mal einen Mucks; so, als hätte er uns nicht einmal bemerkt, doch wir wissen, dass er uns schon längst erwartet.

„Sieh' dir diesen Ort an.", sagt Odin beruhigend. „Er ist wunderschön."

Thor schaut kurz zum Meer hinaus und ich entdecke eine gewisse Ähnlichkeit mit Asgard.

„Vater, wir sind es.", sagt er schließlich und schaut erneut zu seinem Vater.

Loki gesellt sich auf der anderen Seite neben Odin und schaut kurz zur Bucht herunter, bis er Odin ansieht. Und diesmal sieht er Odin mit ganz anderen Augen an; er sieht ihn an, wie er ihn noch nie angesehen hat. Dieser Blick; dieser hilflose und irgendwie traurige Blick. Dieser eine traurige Blick einst, mit dem er mich sonst immer angesehen hat.

„Meine Söhne... Ich habe auf euch gewartet."

„Ich weiß. Wir sind hier, um dich nach Hause zu bringen."

„Nach Hause... ja.", murmelt Odin in Gedanken versunken. „Eure Mutter; sie ruft nach mir. Hört ihr sie?"

Odin dreht sich etwas zur Seite und versucht besser zu lauschen, doch ich bin mir sicher, dass weder Thor, noch Loki die Stimme von Frigga hören können. Das einzige, was ich höre, ist das Rauschen des Meeres und die Luft. Und ich bekomme Angst vor dem Gedanken, der sich in meinem Kopf breit macht; dass er wahr wird.

„Loki, lass den faulen Zauber.", knurrt Thor, doch er bekommt nur ein Kopfschütteln von ihm zurück.

Odin lacht kurz auf und schaut kurz zu Loki. „Hat 'ne Weile gebraucht, um mich aus deinem Bann zu befreien. Frigga wäre stolz gewesen." Odin dreht sich nun komplett um und entdeckt mich. „Freya. Schön dich zu sehen."

Ich lächele Odin an und er lächelt zurück und – mein Gott – mir kommen die Tränen. Ich hätte niemals gedacht, dass ich Odin derartig vermisst habe. Asgard ist für mich wie meine Heimat und er ist das Ebenbild davon. Er ist wie der Vater, den ich niemals hatte.

„Kommt, setzen wir uns. Ich habe nicht viel Zeit.", meint Odin dann und setzt sich auf den Felsbrocken vor mir.

Thor setzt sich links neben ihn, Loki rechts und ich setze mich auf der höheren Ebene des Felsbrockens hinter Loki und schaue zu Odin herunter. Ich würde ihn auf der Stelle von hinten umarmen, wenn ich nur könnte.

„Ich weiß, dass wir dich enttäuscht haben, aber wir können es wieder gut machen.", sagt Thor verzweifelt.

„Ich habe euch enttäuscht.", meint Odin und schaut wieder hinaus in die Ferne. „Sie steht bevor. Ragnarök."

„Nein, ich habe Ragnarök verhindert.", widerspricht Thor ihm. „Ich habe Surtur vernichtet."

Odin schüttelt leicht den Kopf. „Nein. Sie hat bereits begonnen. Sie kommt. Mein Leben war alles, was sie abhielt, aber meine Zeit ist gekommen."

Thor und Loki werfen sich verwirrende Blicke zu und ich versuche Odin mit seinen Worten zu verstehen, aber es klappt nicht. Er redet über etwas im Dunkeln und, obwohl er das immer getan hat, und ich kurze Zeit später verstanden habe, was er meinte, verstehe ich es diesmal nicht.

Die Geschichten, die Odin mir immer erzählt hat, als ich das erste Mal in Asgard kam, waren glasklar. Diesmal nicht. Was meint er mit Ragnarök? Wer wird kommen?

Odin schnappt nach Luft, als gäbe es keine genug. Dabei wirbeln meine Haare wie verrückt.

„Ich kann sie nicht mehr aufhalten..."

Thor neigt seinen Kopf fraglich nach vorne. „Vater, von... von wem sprichst du?"

„Der Göttin des Todes... Hela." Er schaut kurz zu Thor, dann schaut er wieder nach vorne. „Meine Erstgeborene. Eure Schwester."

„Unsere was?"

Thors Verwunderung ist ihm ins Gesicht geschrieben und er hält den Mund vor Schreck offen. Loki hat davon ebenso so viel gewusst, wie er. Noch verwirrender bin ich. Thor war nicht Odins und Friggas Erstgeborener, wie wir es alle gelehrt bekommen haben? Es gibt noch eine ältere Schwester namens Hela? Verdammt.

Odin lässt Thor kaum Luft nehmen und spricht weiter. „Ihre gewaltige Gier überforderte mich. Ich hatte sie nicht unter Kontrolle, also sperrte ich sie ein. Schloss sie weg." Er schaut kurz nach unten auf seine bloßen Hände. „Sie zieht ihre Kraft aus Asgard und... wenn sie erst dort ist, wird ihre Macht grenzenlos sein."

„Was immer sie ist. Wir... wir können sie aufhalten. Gemeinsam treten wir gegen sie an.", sagt Thor mit zerbrechlicher Stimme, als wüsste er, was kommen wird.

Dabei wissen wir drei irgendwie schon, was kommen wird. Mein Gedanke von vorhin wird wahr.

„Nein, werden wir nicht.", erwidert Odin ihm sofort. „Denn mein Weg ist nun ein anderer. Ihr müsst euch ihr allein stellen."

Es wird eine Weile still und mit jeder Sekunde, die vergeht, wird unsere Gewissheit immer klarer. Und, wenn es das ist, was ich denke, dann will ich nicht mehr sein.

„Ich liebe euch, meine Söhne." Odin schaut zu mir nach hinten. „Dich, Freya, liebe ich wie meine eigene Tochter." Er schaut wieder nach vorne in die Ferne des Meeres und bleibt einige Sekunden still. „Seht euch das an." Er deutet auf den Horizont. „Vergesst diesen Ort niemals... Heimat."

Er atmet ein letztes Mal aus. Und ich könnte schwören, dass er kurz lächelte. Doch dann in dem nächsten Moment erlischt Odin, wie eine Flamme des Lichts. Er zerfällt nicht, sondern geht in Lichter auf, welche einzeln in die Höhe steigen und sich dort langsam auflösen, bis keines der Lichter mehr zu sehen ist.

Freya: RagnarokWo Geschichten leben. Entdecke jetzt