Kapitel 1:

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„Zukunft ist nicht das, was uns jemand bietet, sondern das was wir daraus machen."

Mike Berndt



Ein Jahr später – 14. April 2015

Ich konnte nicht schlafen. Wie fast jede Nacht eigentlich. Und wenn ich dann mal einschlafe und schließlich aufwache, kommen diese schrecklichen Bilder wieder hoch.

Ich kann nicht glauben, dass es passiert ist.

Aber es ist passiert und wir waren aus einem guten Grund dort – zwei Teile der Avengers; gespalten und gegeneinander – kämpfend.

Es geht mir nicht mehr aus dem Kopf.

Ich versuche mich abzulenken. Jeder geht damit auf seine eigene Weise um. Wenn man sich für dieses Leben entschieden hat, dann muss man auch akzeptieren, dass der Schmerz ganz sicher Teil davon ist, aber wenn es dazu kommt, ist es trotzdem schwer.

Mit den Jahren lässt man immer weniger Menschen an sich heran. Manchmal möchte man einfach die Beine in die Hand nehmen und weglaufen. Manchmal ist es das, was ich will. Einfach nur weglaufen und neu anfangen.

Und dann, wenn ich draußen mitten in der Nacht wieder im Garten stehe, die Rosen meiner Mutter zu Eis gefrieren lasse und mich frage, wie ich hier gelandet bin, dann fällt mir die Antwort wieder ein: ich vermisse den Schmerz.

Es liegt mir im Blut, dass ich kämpfen muss. Schon seit je her. Anfangs hatte ich noch gute Chancen. Wenn ich nicht mehr kämpfe konnte, hatte ich einen Weg aus all dem, wo ich mit meiner Mutter alleine in Cooperstown leben konnte.

Aber diese Zeiten sind schon längst vorbei. Es hat sich alles geändert. Und nun bin ich wieder eine andere.

„Freya, komm wieder rein."

„Einen Moment noch."

Ich stehe wie versteinert dort auf dem Rasen, atme die kalte Luft durch meine Nase bis tief in meine Lungen ein und atme sie wieder heraus. Meine Hände werden blau und ich fasse mir an meine Wangen. Doch sobald ich mich umgedreht habe, werden sie wieder normal.

„Mom, geh' wieder schlafen."

„Das sollte ich eher zu dir sagen."

Ich sehe, wie ihre Lippen augenblicklich zu beben beginnen durch die Kälte. Etwas, was ich von mir nie wieder erwarten kann. Kälte. Das Frieren, das der Mensch spürt, werde ich nie wieder spüren. Es macht mich unmenschlich.

Ich gehe an meiner Mutter vorbei zurück ins Haus. Sie schließt die Tür hinter mir und verschränkt beide Arme vor ihrer Brust. Der Bademantel, den sie trägt, lässt sich leicht dicker wirken.

„Wieder diese Albträume?"

„Hm-hm."

Sie seufzt und reibt sich ihre Augen. „Du brauchst eine Auszeit. Du hockst schon seit einem Jahr hier im Haus und verlässt es nur, wenn Laila dich irgendwo einladet."

„Ich wollte ja arbeiten gehen, aber du lässt mich ja nicht."

„Weil dich jeder kennt, Freya. Das ist der Unterschied."

Ich seufze. „Soll ich dann wieder nach draußen gehen?"

„Nein, ich will nicht, dass du dich in Gefahr bringst; irgendwelche Aliens töten oder noch schlimmer: dich selbst töten."

„Eigentlich hatte ich gedacht wieder nach draußen in den Garten zu gehen, aber so könnte man es auch sagen."

„Freya..."

„Mom, ich hab' alles unter Kontrolle, ok? Es sind nur Visionen, die in meinen Träumen vorkommen."

„Was ist, wenn es einer aus der Zukunft wird?"

„Ich erkenne immer noch den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft."

„Und was ist mit der Gegenwart?"

„Na ja... jetzt steht gerade meine Mutter vor mir und meint, dass ich nichts mit meinem Leben machen soll." Ich gehe einen kleinen Schritt auf sie zu und beruhige meine Stimme. „Du hast es auch gemerkt, richtig?"

Sie legt ihre Stirn in Falten. „Was gemerkt?"

„Dass ich das brauche... das Böse jagen, die Welt retten." Ich seufze, denn sogar mir gefällt das nicht, was ich nun sagen werde. „Ohne das kann ich nicht leben. Es hört sich vielleicht dumm an, aber ich glaube, dass ich dafür bestimmt bin."

Sie bleibt still. Ob sie den Kontext davon verstanden hat, weiß ich nicht, aber ich glaube, sie denkt in die richtige Richtung, denn sie wählt ihre Worte mit Bedacht.

„Wie wär's, wenn du Odin und Thor einen Besuch abstatten würdest?"

Daran habe ich gar nicht mal gedacht. Es ist schon eine sehr lange Zeit her, dass ich das letzte Mal in Asgard war. Womöglich hat sich nicht viel geändert.

„Gut."

Ich gehe hoch in mein Zimmer, reiße meinen Kleiderschrank auf und ziehe mir eine enge Jeanshose mit einem dünnen Pullover rüber.

„Doch nicht jetzt!"

„Jetzt, oder nie." Ich sitze auf meinem Bett und ziehe meine Schuhe an. „Ich konnte eh nicht mehr einschlafen. Und es ist deine Schuld, dass ich jetzt dahin gehe."

Ich stehe auf, gebe meiner Mutter einen Kuss auf die Wange und gehe an ihr vorbei aus meinem Zimmer. Das Adrenalin in meinem Körper macht sich erst bemerkbar, als ich die Treppen herunterspringe und aus der Vordertür husche. Dabei sehe ich durch eine Vision, dass meine Mutter bei der Terrasse vor unserer Tür steht und mir zusieht, wie ich in Richtung Wald gehe, der (verdammt sei dieser Wald) immer noch knistert, wie beim aller ersten Tag.

Es ist noch dunkel und ich kann kaum etwas erkennen, sobald ich zwischen den Bäumen entlang gehe und versuche keinen Ast in die Augen zu bekommen.

Für einen kurzen Moment habe ich gedacht, dass ich den Weg zur dieser Stelle, an der der Bifröst mich jedes Mal mitnahm, vergessen habe, aber als ich ihn entdeckte, kommt mir erst wirklich in den Sinn, wie lange ich schon nicht mehr in Asgard war; mittlerweile ist viel Moos und Unkraut über der Stelle gewachsen und die Wurzeln der umliegenden Bäume haben sich mit der Zeit wieder einen Weg zur Stelle gebahnt. Aber die Zeichen auf dem Erdboden sind gleich geblieben, nur etwas verwildert.

Na ja, schon bald nicht mehr.

Ich schaue mich eine Weile um und schließe dann meine Augen und denke an Asgard, diesen wunderschönen Ort. Ich stelle ihn mir genau vor und vergesse den Gedanken, dass ich im Wald stehe. Und ich öffne meine Augen.

„Heimdall?"

Es kommt keine Antwort. Das kann schon mal passieren, aber normalerweise sieht Heimdall mich schon von weitem und nach den ersten Sekunden, in denen man ihn ruft, antwortet er sofort, indem er den Bifröst öffnet.

Aber es passiert nichts.

„Heimdall? Bist du da?"

Immer noch keine Antwort.

Das ist seltsam. Und würde mich jetzt noch jemand aus der Ferne beobachten, würde derjenige glatt glauben, dass ich verrückt sei, wenn ich mitten im Wald stehe, hoch in den Himmel schaue und jemanden rufe.

„Heimdall? Ich möchte gerne nach Asgard!" Ich schaue kurz um mich herum. „Kannst du mich hören?"

In dem Moment ruckelt die Stelle für zwei Sekunden.

Dann kommt der Strahl von ganz oben und trifft mich, wie ein Schlag. Ich habe glatt vergessen, wie es sich anfühlt, wenn man nach Asgard gelangt.

Freya: RagnarokWo Geschichten leben. Entdecke jetzt