1 | Das, in dem ich unsichtbar bin

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Ich war unsichtbar. Ein Schatten, der sich in der Dunkelheit fortbewegte. Ungesehen, leise und ruhig. Das war ich immer schon gewesen. Das Mädchen, das man schnell wieder vergisst, sobald es am Rande seines Blickfeldes aufgetaucht war. Ein Nebencharakter der Geschichte, wenn überhaupt das. Jemand, der einfach da war, aber nicht sonderlich viel zu der Geschichte an sich beitrug. Ich ließ andere Menschen die Hauptpersonen spielen, damit ich mein Leben weiterleben konnte. In Ruhe und Frieden. Ich war eine wahre Meisterin im Unsichtbarsein.

Ich war nicht traurig oder deprimiert deswegen. Ich mochte es so lieber, denn ich sah es so: Wenn sich niemand für mich interessierte, konnte auch niemand etwas gegen das haben, was ich tat. Ich war frei. Frei von Vorurteilen und Gerüchten. Frei, das zu tun, was ich wirklich wollte, ohne mich um die Meinung anderer kümmern zu müssen. Ich war besser dran, als die meisten an meiner Schule, die in diesem System gefangen waren, ohne es zu bemerken. Die sich an den Meinungen ihrer sogenannten Freunde festhielten und danach strebten in ihrem Ansehen zu steigen. In einer Hackordnung, in der sie als kleine Fische gegen die großen Haie nicht ankamen.

Anstatt diesem System zum Opfer zu fallen, verlor ich mich in meinen Träumen. Zwischen den Seiten eines Buches oder in meinen Tagträumen, die darüber nachgrübelten ‚Was wäre, wenn...'.

Was wäre, wenn ich jemand anderes sein könnte? Was wäre, wenn ich meinen Träumen freien Lauf ließ? Was wäre, wenn mein Leben plötzlich eine unvorhersehbare Wendung nehmen würde?

In meinen Gedanken waren das nichts weiter als Hirngespinste. Mein an Disney-Filmen orientierter Glaube, dass am Ende alles gut werden würde und ich mit meinem Prinzen auf einem weißen Ross in den strahlenden Sonnenuntergang reiten würde, entsprang einer Vorstellung, an die ich schon als kleines Kind gerne glauben wollte. Mittlerweile war mir jedoch bewusst, dass das in meinem Fall nicht so kommen würde. Meine Mutter war der festen Überzeugung, dass ich in meinem Alter nicht mehr so oft Disney-Filme schauen sollte, doch ich tat es trotzdem. Für Disney war man nie zu alt. Es war ganz schön widersprüchlich, wenn man sich vorstellte, dass sich nahezu alle Disney-Helden von einem Abenteuer ins nächste stürzten, während ich selbst in meiner sicheren Blase gemütlich vor mich hin schwebte.

Niemals hätte ich daran geglaubt, dass es eines Tages wirklich so weit kommen würde und dass ich nicht mehr unsichtbar sein würde, denn das war das Einzige, was ich gewohnt war. Unsichtbar zu sein. Es war mein einziger Lebensbestandteil, der sich über die Jahre hinweg nicht geändert hatte.

Die Betonung lag hier leider auf dem kleinen Wort 'war'. Denn das alles änderte sich schlagartig. Fast so wie in meinen Tagträumen, an die ich nie gewagt hatte zu glauben. Der Tag, an dem sich mein Leben für immer auf den Kopf stellte, war ein Donnerstag. Mitten im Oktober. Die Luft war kühl und auf dem Weg zur Schule lagen erste Herbstblätter auf der Erde. Sie wirbelten leicht durch die Luft, drehten sich eine Weile um sich selbst und legten sich dann sanft zu meinen Füßen nieder.

Ich erinnerte mich deswegen so gut daran, weil ich alles aufgeschrieben hatte. Mein Tagebuch, in das ich seit Monaten nicht mehr geschrieben hatte, wurde mein bester Freund. Sechs ganze A5-Seiten hatte ich an diesem ersten Tag meines neuen Lebens mit meiner kleinen unleserlichen Schrift vollgekritzelt. Seitdem schrieb ich fast jeden Tag auf die leeren Seiten, bis es letztendlich voll war und meine Mutter mir ein neues kaufen musste.

Mein Blick wanderte unvermittelt zum Himmel, der grau und trist von Wolken behangen war. Ich lächelte, denn der Herbst war meine Lieblingsjahreszeit. Nicht nur weil ich im Herbst Geburtstag hatte, sondern weil ich es mochte, wenn sich um mich herum alles bunt färbte. Die Bäume schillerten in den schönsten Farben. Ich nahm mir auf meinem Weg zur Schule, der durch einen kleinen Waldabschnitt führte, immer etwas Zeit sie zu betrachten. Während andere in meinem Alter einfach achtlos daran vorbei liefen oder höchstens einmal in einen Blätterberg sprangen, dann aber bemerkten, dass sie schon zu alt und zu cool für solche Albereien waren, stand ich an Ort und Stelle, um den Blättern noch eine Weile bei ihrem munteren Tanz in den Lüften zuzuschauen.

Katara - Bound To DreamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt