Mein Mund klappte auf, nur um gleich darauf wieder zuzuklappen. Ich wusste selbst nicht, was ich erwartet hatte vorzufinden. Das Gerede über Aiden, als wäre er der verschollene Prinz eines großen Königreichs, hatte bei mir wohl dazu geführt, dass ich mir sein Zuhause in etwa genau so vorgestellt hatte.
Eine große Villa, die man schon aus der Ferne sah und gegen die die anderen Häuser wie Spielzeughäuschen wirkten, ein paar Autos, die auf einem großzügigen Parkplatz standen, alle frisch gewaschen und poliert, sodass sie in der Sonne glänzten. Immer darauf bedacht den bestmöglichen Eindruck zu machen. Und abschließend eine grün blühende Hecke, die das ganze umrandete. Vielleicht würde es sogar ein Tor geben, dass uns den Weg versperrte und dann von einem hilfsbereiten Angestellten per Knopfdruck aufgeschoben wurde.
Zumindest die Hecke gab es wirklich, zwar in kleinerer Ausführung, in der ich sie mir ausgemalt hatte, aber sie war größer als ich, sodass ich nicht darüber schauen konnte. Aiden schaffte das locker. Jemand - vielleicht Aidens Vater, oder sogar Aiden selbst - musste die Hecke erst kürzlich geschnitten haben. Ein paar Stellen waren so kahl, dass ich zwischen den Ästen hindurchblicken und einen ersten Blick auf das Gebäude dahinter werfen konnte.
Bei näherer Betrachtung war sein Zuhause eigentlich nichts Besonderes. Es war merkwürdig normal. Es gab eine Haustür, einen Schornstein und ein paar Fenster, die sowohl zur Straße als auch zu einem kleinen Gartenbereich hinten ausgerichtet war. Eine blau gestrichene Garage grenzte an das weiß verputzte Gebäude und wir kamen vor dem Tor zum Stehen. Auf den unteren Abschnitten der Garage hatten Kinder – Aiden und seine Schwester? – Figuren gemalt, die mit der Zeit jedoch an Farbe verloren hatten. Vage erkannte ich eine gelbe Sonne, die mit einem breiten Grinsen und weit aufgerissenen Augen auf die Szenerie schaute, die offenbar Aiden und seine Freunde beim Fußballspiel zeigen sollte. Aiden hielt einen Ball in den Händen und verhinderte so ein Tor der gegnerischen Mannschaft. Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen reckte triumphierend die Strichmännchenarme in die Höhe.
Ich musste grinsen. Paul und ich hatten früher immer mit Kreide auf der Straße gemalt und jedes Mal, wenn es regnete, war ich tottraurig darüber gewesen, dass unsere bunten Bilder mit einem Schlag davongewischt worden waren. Irgendwann war Paul dann auf die Idee gekommen, unser Auto zu verschönern. Eine halbe Stunde blieb unser Tun unbemerkt, dann aber stürmte Mom schreiend aus der Haustür und warf die Hände über dem Kopf zusammen, als sie unser Werk betrachtete. Eine Ansammlung bunter Strickmännchen, Blumenwiesen und schlecht gemalten Tieren, verteilt auf dem weißen Lack ihres Autos.
Es stellte sich heraus, dass Kreide auch nach mehrmaligem Waschen nicht so leicht von der Karosserie zu befreien war, aber immerhin sah man unser Auto in der Zeit schon aus der Ferne. Es war ehrlich gesagt auch kaum zu übersehen gewesen, denn gerade auf der Haube hatten wir unser künstlerisches Talent voll ausgelebt. Mom war davon alles andere als begeistert. Verständlich, denn sie war schließlich diejenige, die mit dem Auto fahren musste und in der ganzen Stadt von lachenden Gesichtern verfolgt wurde.
Seit diesem Vorfall hatte sie uns keine fünf Minuten aus den Augen gelassen, wenn wir draußen spielten und mit Kreide hantierten. Die Zeichnungen waren erst nach ein paar Monaten vollständig wieder herausgegangen, auch wenn kleine Kratzer stets an diesen grandiosen Einfall meines Bruders erinnerten. Mit unserem neuen Auto ein paar Jahre später hatte unsere Mutter sich dann keine Sorgen mehr darüber machen müssen, dass wir unsere künstlerische Energie auf die Verschönerung unseres neuen fahrbaren Untersatzes setzen würden. Wir waren älter und ein Stück schlauer geworden. Eine Idee wie diese würden wir nicht noch einmal haben.
Die Erinnerung verblasste und meine Aufmerksamkeit richtete sich auf das Hier und Jetzt. Die Blumenbeete und die Steckfiguren, die zwischen den Pflanzen zu uns herüberwinkten, vermittelten mir sofort den Eindruck eines wahren Zuhauses. Einem warmen Kamin, zu dem man abends nach einem langen anstrengenden Tag zurückkehrte. Eine weiche Decke, in die man sich kuschelte, während man ganz gemütlich eine heiße Schokolade schlürfte. Wände, in denen man sich durch und durch geborgen fühlen konnte. In denen man so sein kann, wie man war, ohne dafür verurteilt zu werden.
DU LIEST GERADE
Katara - Bound To Dream
Teen FictionKatara ist das Mädchen, das man schnell wieder vergisst. In ihrer Schule ist sie unsichtbar. Leben lassen und dadurch überleben. Das ist ihr Motto. Sich aus allem raushalten und stumm das tun, was von ihr verlangt wird. Doch was geschieht, wenn der...