5 | Das, in dem ich Houdini sein will

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Die Doppelstunde Deutsch zog sich unnötig in die Länge. Ich konnte die Blicke meiner Mitschüler in meinem Rücken spüren. Oder zumindest glaubte ich sie spüren zu können. Das war einer der Gründe, warum ich in fast jedem Unterricht die letzte Reihe bevorzugte. Emma und ich konnten unter uns bleiben und niemand würde unsere Anwesenheit bemerken. Bis auf die Lehrer, die uns mindestens einmal in der Woche sporadisch aufriefen, um zu prüfen, ob wir mit dem Stoff noch hinterherkamen.

Emma hatte, bis auf die Nervosität, kein Problem damit. Immerhin war sie Stufenbeste, und das schon seit drei Jahren infolge. Ich hatte etwas mehr zu kämpfen. Das grandiose fotografische Gedächtnis meiner Freundin besaß ich nicht und mit einem flüchtigen Blick ins Buch würde es auch nicht getan sein.

Einmal hatte mein Bruder mir sogar Nachhilfe in Mathe geben müssen, damit ich einen Test nicht vollkommen versemmelte. Er sah zwar nicht so aus, aber was Mathe anging, war er ein Ass. Er machte selbst dem Mathelehrer Konkurrenz und der hatte sein Studium mit Einser Schnitt bestanden. Ich wusste, dass Noten nicht alles waren. Es gab wichtigeres im Leben als eine Aneinanderreihung von Zahlen, auf die bereits ein paar Monate nach dem Abschluss niemand mehr achten würde. Unserem Mathelehrer hatte das anscheinend noch niemand gesagt. Seine Abschlusszeugnisse präsentierte er pünktlich zum Schulbeginn jedes Jahr aufs Neue. Er sah es als Motivation, aber aus irgendeinem Grund demotivierten mich seine Reden immer.

Herr Fries war jedoch so freundlich und akzeptierte das ohne Wenn und Aber. Er ließ uns unsere Plätze aussuchen und änderte auch nicht einfach so die altbewährte Sitzordnung.

Ganz im Gegensatz zu Frau Lammer, die Lehrerin an unserer Schule, die ich eigentlich mochte, die ich in diesem Moment jedoch am liebsten erdolcht hätte. Eine neue Sitzordnung! Mitten im Schuljahr! Wer kam denn auch auf solch eine Idee? Und warum musste sie mich in die zweite Reihe neben den beliebtesten Jungen der Schule setzen? Warum gerade mich?

Eine perfide Verschwörung gegen mich war im Gange und ich war drauf und dran dahinterzukommen. Die Blicke in meinem Rücken wurden so schmerzhaft, als hätte man ein Dutzend Messer nach mir geworfen. Und getroffen. Einige meiner Mitschüler hätten das sicher getan, wenn sie dafür neben Aiden sitzen konnten.

Aiden unternahm genau zwei Versuche sich mit mir zu unterhalten, doch es blieb bei den Versuchen. Beim ersten Mal hatte er sich weit zu mir herübergelehnt. Ich hatte automatisch den Atem angehalten, solange er mir so nah war, dass ich nur meine Finger ein paar Zentimeter ausstrecken musste, um ihn zu berühren. Kurzeitig schwang der Geruch seines Deos zu mir herüber und ich musste zugeben, dass es gut roch. Sehr gut sogar. Das führte in meinen Augen nicht gerade zu einer Minderung meiner Schwärmerei. Eigentlich machte es das nur noch schlimmer.

„Echt einschläfernd, oder?", flüsterte er und tippte auf unsere aktuelle Lektüre, Der Hauptmann von Köpenick. Der Hauptmann, Wilhelm Voigt, war eigentlich ein normaler Mann. Das hieß, eigentlich war er nicht ganz normal. Er saß länger im Gefängnis, als ich mir überhaupt vorstellen konnte. Dadurch hatte er dann Probleme an eine Aufenthaltsgenehmigung in seiner Heimat zu kommen. Irgendwann hatte er die Idee für einen Coup, den er nach einem weiteren Aufenthalt im Gefängnis in die Tat umsetzte. Er kaufte sich eine Uniform und gab sich als Hauptmann aus. Mit ein paar Soldaten, die er getroffen hatte, machte er sich auf den Weg zum Rathaus von Köpenick und raubte kurzerhand die Stadtkasse leer. Alle Menschen hatte er glauben lassen, dass er ein wahrer Hauptmann war und die Neuigkeit hatte Schlagzeilen gemacht. Leider wurde er zwei Wochen später erwischt und ging erneut ins Gefängnis. Manche Menschen wurden einfach vom Unglück verfolgt. Egal wie gut sie es meinten.

Unsere Lehrerin diskutierte gerade, ob dieses Ende der Geschichte Voigts einzige Chance gewesen war, oder ob er vielleicht an einem Teil der Erzählung die Möglichkeit gehabt hatte, den Teufelskreis zu verlassen, die Chance jedoch ungenutzt gelassen hatte.

Katara - Bound To DreamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt