19 | Das, in dem aus 'Ich' ein 'Wir' wurde

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Wäre ich nicht zu hundert Prozent sicher gewesen, dass meine Mutter an diesem Nachmittag nicht zuhause war, hätte ich dem Vorschlag mich bis vor die Haustür zu begleiten niemals zugestimmt. Wen ich in meiner Gleichung nicht betrachtet hatte, war mein Bruder. Paul hatte ausgerechnet an diesem Tag früher Schluss gemacht und war unerwartet bereits zwei Stunden vor seinem eigentlichen Dienstschluss zuhause. Beinahe genauso erstaunt wie ich ihn zu sehen, war er Aiden wieder zu begegnen.

Die Zahl seiner Besuche wuchs stetig und Paul war zunächst nicht besonders glücklich über diesen Zustand, wie ich bedrückt feststellen musste. Das nannte sich dann wohl Beschützerinstinkt. Bis vor kurzer Zeit hatte er sich darüber wenig Gedanken machen müssen, das gab ich zu und die Geschwindigkeit, in der sich das verändert hatte, verängstigte mich ebenfalls.

Der Rückweg verlief eher ruhig und ich schaffte es Fragen über Aidens Familie zu umgehen. Und das, obwohl ich pausenlos darüber nachdachte. Wo waren seine Eltern und warum lebte er nicht mit ihnen zusammen?

Ich dachte sofort an den Vorfall vor zweieinhalb Jahren kurz vor den Sommerferien. An den Tag, an dem ich Aiden das letzte Mal sah, bevor er auf wundersame Weise aus meinem Leben und dem aller anderen meiner Mitschüler verschwand. Sein verkniffener Gesichtsausdruck, seine aschfahle Haut und sein Zittern waren ein starkes Indiz dafür, dass etwas Schlimmes geschehen war. Wenn dieses Verhalten nicht schon genug war, dann war es spätestens mit seiner zweijährigen Abwesenheit klar, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Nur was, war die alles entscheidende Frage, auf die niemand eine richtige Antwort fand. Aiden war bei diesem Thema schon immer verschlossen gewesen. Niemand wusste, was geschehen war und wo er die folgenden zwei Jahre verbracht hatte.

Die Gerüchteküche lief – wie sollte es anders sein – natürlich heiß. Er hatte schließlich nichts gesagt und ließ Fragen darüber allgemein unbeantwortet. Einige behaupteten er habe die letzten Jahre im Ausland verbracht, weil sein Vater einen Job bekommen hatte. Amerika, Australien, Japan. Wohin es ihn genau verschlagen hatte, da schieden sich die Geister. Irgendjemand hatte das Gerücht in die Welt gesetzt seine Familie wäre steinreich und Aiden wäre nach Kalifornien gezogen, zurück in sein 20 Millionen Dollar Anwesen und würde ab jetzt nur noch privat unterrichtet werden. Mit seiner Rückkehr wurde dieses Gerücht etwas unglaubwürdig. Es war die weit verbreitetste Annahme und die Antwort, die sich vor allem die jüngeren Schüler einreden wollten, weil es Aiden noch spannender und mysteriöser erscheinen ließ, als er ohnehin schon war. Damals wurden alte Vermutungen wieder lauter.

Zugegeben, sie waren ziemlich amüsant und unterhaltsam, aber weit weg von der Realität. Dass Aidens Vater wegen Drogenhandels ins Gefängnis musste und er nach Panama geflohen war, weil er selbst in dieser Geschichte Dreck am Stecken hatte, konnte ich einfach nicht ernst nehmen. Es war trotzdem witzig mit anzusehen, wie sich die Leute den Kopf zerbrachen, was Aidens Leben anging.

Deswegen öffnete Lucys Offenbarung einer Schwester neue Türen in meinen persönlichen Vermutungen und ich war mir beinahe sicher, dass sein Verschwinden etwas mit seiner Schwester zu tun hatte. Die Art und Weise, wie Susan über sie gesprochen hatte, leise und mit wachsender Sorge in ihrer Stimme, bestätigte meinen Verdacht oder untermahlte ihn zumindest bis zu einem bestimmten Grad. Ganz genau konnte ich es schließlich nicht wissen, wenn Aiden nicht darüber sprach und mich ins Vertrauen zog.

Diese Gedanken schwirrten mir ununterbrochen im Kopf herum, bis wir die Einfahrt meines Zuhauses erreichten. Ab da hatte ich plötzlich ganz andere Probleme.

Paul hatte uns offensichtlich durchs Fenster in seinem Zimmer gesehen und war heruntergekommen, um uns die Tür zu öffnen. Ob er nur zuvorkommend, neugierig oder beschützend oder alles zusammen war, zeigte sich noch.

„Aiden? Was machst du denn hier?" Seine Augen huschten misstrauisch von Aiden zu mir und wieder zurück. Seine Gesichtszüge wurden hart und plötzlich sah ich den Jungen darin aufblitzen, der er früher einmal gewesen war. Der Junge, der seine Schwester beschützte und alles Unheil von ihr abhalten wollte. Als wir klein waren, tauchte der Gesichtsausdruck häufiger auf, besonders gegenüber älteren Kindern auf dem Spielplatz, die mich immer hatten ärgern wollen.

Katara - Bound To DreamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt