2 | Das, in dem er mich sieht

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Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir - öfter als mir lieb war - vorgestellt, wie es sein würde, wenn er mich bemerkte. Würde es so sein wie in den romantischen Filmen? Würde mein ganzer Körper mit einem Mal unter Strom stehen und würde ihn das gleiche Gefühl überkommen? Würden wir in diesem Moment nur Augen für den jeweils anderen haben und würden wir unsere Blicke erst voneinander nehmen, wenn sich jemand zwischen uns stellte? Es klang zu romantisch und zu wundervoll, als dass es wirklich geschehen konnte. Selbst in meinen kühnsten Träumen klang diese Geschichte wie ein billiger Abklatsch des Kitschromans, den ich gerade las und der in den Tiefen meines Rucksacks schlummerte.

Die Wirklichkeit war ernüchternd. Ich brachte kein einziges Wort hervor und konnte nichts weiter tun als ihn anzustarren und zu beten, dass ich im Erdboden versinken möge, um dieser Schmach endlich ein Ende zu setzen. Das Blut musste mir bereits bis zu den Ohren gestiegen sein. Glücklicherweise trug ich meine Haare offen, sodass man meine glühenden Ohren nicht sehen konnte. Doch allein der Gedanke, dass sie in diesem Moment genauso aussahen, wie ich befürchtete, machte mich unruhig. Meine Hände wurden schwitzig und mein Herz raste so schnell, als hätte mich unser herrischer Mathelehrer gerade vor der gesamten Klasse an die Tafel gebeten um eine Aufgabe zu lösen. Es war blanke Panik.

Selbst Emma, die sich normalerweise schneller gefasst hatte, die er bis dahin jedoch noch nicht angesprochen hatte, regte sich keinen Zentimeter. Ihre Gabel hatte sie auf halbem Weg zu ihrem Mund, wieder sinken lassen. Weder sie noch ich und wahrscheinlich auch der Rest der Schule, konnten glauben, dass sich gerade der beliebteste Junge der ganzen Schule neben uns gesetzt hatte. Neben zwei Mädchen, die eigentlich unsichtbar sein sollten und die es bis zu diesem Augenblick auch gewesen waren. Eben bis zu genau dem Zeitpunkt, in dem er auf der Bildfläche erschienen war.

Blöderweise erinnerte ich mich in genau diesem Moment an ein Spiel, das ich als ich klein war immer gespielt hatte. Erst im Kindergarten, später auch in der Grundschule und zum Kennenlernen in der fünften Klasse erneut, wo es allen Beteiligten allerdings schon ein wenig peinlich gewesen war. Immerhin waren wir keine kleinen Kinder mehr und eindeutig schon zu alt für solche Kindergartenspiele.

Das Spiel war simpel. Alle Schüler und Schülerinnen setzten sich in einen Stuhlkreis und ließen einen Stuhl frei. Das Spiel konnte sofort beginnen.

Mein rechter, rechter Platz ist frei. Ich wünsche mir... An dieser Stelle musste man sich jemanden aus dem Kreis aussuchen. Die Person musste aufstehen und sich auf den freien Platz setzen. Derjenige, dessen rechter Platz nun frei war, fuhr fort. Mein rechter, rechter Platz ist frei...

Tja und genau darin lag das Problem. Mein rechter Platz war nämlich nicht mehr frei. Dabei hätte ich mir nichts anderes sehnlichst gewünscht. Ich wollte nicht, dass sich jemand auf diesen Platz setzte. Und ganz bestimmt nicht der Junge, den ich vor knapp einer halben Minute noch durch die ganze Mensa hinweg angestarrt hatte. Darüber hinaus hatte ich mir auch noch vorgestellt, wie wir zu zweit in den Sonnenuntergang ritten.

Mein erster Gedanke – und das war wirklich das Schlimmste, was mir hätte passieren können – war, dass er bemerkt hatte, wie ich ihn angestarrt hatte. Dann rief ich mir jedoch ins Gedächtnis, dass das nicht sein konnte. Ich war unsichtbar. Man merkte nicht, wenn man angestarrt wurde, wenn derjenige nicht einmal wirklich existierte. Und doch musste es einen Grund dafür geben, dass er nun neben uns saß.

Seine lächerlich strahlend blauen Augen hatten nicht eine Sekunde geblinzelt, seitdem er sich lässig auf dem Stuhl niedergelassen hatte. Sie beobachteten mich eine Spur zu eindringlich. Seine Mundwinkel hatten sich zu einem Grinsen verzogen. Ich wusste nicht genau, wie ich in diesem Moment aussah, aber anscheinend war es nicht sonderlich gut, denn eine kleine Sorgenfalte erschien auf seiner Stirn und das Grinsen verschwand. Er beugte sich ein Stück zu weit nach vorne und ich hielt beinahe automatisch den Atem an.

Katara - Bound To DreamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt