Ich hatte nie einen großen Gedanken daran verloren, wie dunkel der Himmel während eines Gewitters werden konnte. Das lag wohl daran, dass ich ein Unwetter bis dahin immer von drinnen und nicht von draußen erlebt hatte. Bis jetzt. Die dunklen Wolken zogen unheilverkündend über uns hinweg und der Regen klatschte mit jeder Sekunde stärker auf unsere Köpfe. Die Blätter raschelten im tosenden Wind und das fröhliche Vogelzwitschern, das sonst die Wälder beherrschte, war verschwunden. Das Gewitter war noch ein paar Kilometer entfernt. So weit. So gut. Es war zwar nur ein schwacher Trost, aber immerhin etwas.
Weder Aiden noch ich hatten einen Regenschirm dabei, geschweige denn passende Kleidung. Meine dünne Jacke wärmte mich schon lange nicht mehr und auch Aiden musste mit seiner Trainingsjacke ziemlich frieren. Die Chance sich unter ein hervorstehendes Dach zu stellen und den Regenschauer einfach abzuwarten, bot sich uns im Wald leider nicht. Ein dumpfes Donnergrollen durchlief meinen ganzen Körper. Sogar der Boden unter unseren Füßen bebte. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Augenblicklich schoss mein Puls in die Höhe. Das letzte, was ich wollte, war es bei einem Gewitter draußen zu sein. Ungeschützt und durchnässt bis auf die Knochen. Mit dem Wasser aus meinen Klamotten könnte man problemlos ein Schwimmbecken füllen. Allerdings nur das Kinderplanschbecken, in dem Paul und ich uns im Sommer immer die Füße gekühlt hatten.
Erst jetzt bemerkte ich, wie weit wir eigentlich spaziert waren. Der Parkplatz des Sportvereins war noch lange nicht in Sicht und um uns herum sah ich nichts als Bäume. Als wir den Parkplatz erreichten, kündigte sich die fette Erkältung bereits an. Ich stellte konsterniert fest, dass Aiden gerade heute nicht mit dem eigenen Auto gefahren war. Eine offensichtliche Fehlentscheidung, denn nun standen wir da wie die begossenen Pudel – wortwörtlich. Unsere einzige Chance dem Regen zu entgehen (in Anbetracht der Tatsache, dass wir jetzt schon bei jedem Schritt zehn Liter Wasser verloren, vergebliche Liebesmüh), war es unter dem Vordach des Vereinshauses Schutz zu suchen und darauf zu hoffen, dass irgendjemand dort noch die Vereinskasse dokumentierte oder irgendetwas anderes tat, was seine Anwesenheit begründete. Hauptsache wir würden dadurch ins Trockene gelangen.
Meine Hoffnung wurde binnen Sekunden in ihre Einzelteile zerschlagen. Alle Fenster waren dunkel und die Tür war fest verriegelt. Aiden rüttelte und klopfte – wobei hämmerte, traf eher zu – an die Tür, um auf uns aufmerksam zu machen. Sollte uns jemand bemerkt haben, so ignorierte er unsere Rufe. Meine Zähne klapperten aufeinander, als hätte der Herbst nicht gerade erst begonnen, sondern als steckten wir irgendwo mit Napoleons Grande Armée in Russland fest. Ziellos und so naiv zu glauben, die Schlacht würde gut ausgehen. Ich wollte nicht übertreiben, aber unsere Lage war ziemlich aussichtslos. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich das kleine Verkaufshäuschen entdeckte und mir die rettende Idee kam.
„Ich weiß, wo die Schlüssel sind.", sagte ich laut, mit dem Finger auf die Bude zeigend. Der Regen peitschte nun von allen Seiten auf uns nieder. Das Gewitter war genau über uns. Ich sehnte mich in mein warmes gemütliches Zuhause zurück.
„Was?" Aiden hatte den Versuch, den Regen aus seinem Gesicht fernzuhalten aufgegeben und legte sich die Hand stattdessen ans Ohr.
„Ich sagte, ich weiß, wo die Schlüssel sind.", wiederholte ich, doch als mich Aiden weiterhin ahnungslos anstarrte, packte ich ihn einfach bei der Hand und zog ihn mit mir zu der Verkaufshütte. Ich zog den Schlüssel unter einem Ziegelstein hervor und versuchte unter dem Schein von Aidens Handytaschenlampe die Tür aufzuschließen. Wir mussten uns beide dagegenstemmen, damit sie aufsprang und uns endlich in ihre trockenen vier Wände einließ. Knarzend und mit aufbrausendem Widerstand fiel die Tür schließlich ins Schloss. Wer auch immer die einfallslose Eingebung gehabt hatte, den Schlüssel an der offensichtlichsten Stelle zu verstecken, die man sich nur vorstellen konnte: Ich dankte ihm aus tiefstem Herzen.
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Katara - Bound To Dream
Teen FictionKatara ist das Mädchen, das man schnell wieder vergisst. In ihrer Schule ist sie unsichtbar. Leben lassen und dadurch überleben. Das ist ihr Motto. Sich aus allem raushalten und stumm das tun, was von ihr verlangt wird. Doch was geschieht, wenn der...