Eight

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Mit einem Seufzen löse ich meinen Verband heute zum zweiten Mal, nachdem ich ihn mir im Klassenzimmer wieder provisorisch um die Finger gewickelt habe. Zum Glück ist gerade keiner zuhause und so kann ich mich ungestört dem weißen Flügel vor mir widmen, der wie ein Diamant an einem Ring die Mitte des Raumes ziert.

Ich liebe dieses Zimmer.

Schon immer hat mich dieser Raum fasziniert, schon früher habe ich mich oft nachts, wenn ich nicht schlafen konnte, hier hereingeschlichen. Habe meine Finger auf die Tasten des weißen Klavierflügels gelegt, so als wäre dies die einzig natürliche Haltung, die ein Mensch einnehmen sollte. Wie immer beruhigt mich das kühle Material auch jetzt und bringt mein komplett durcheinander gewirbeltes Inneres wieder in eine sanfte Ordnung.

Das Klavier ist mein Anker. Die Klaviatur meine Verbindung zu etwas Größerem.

In diesem Raum, der schon als Kind eine magische Wirkung auf mich ausgeübt hat, fühle ich mich leicht, sind alle Sorgen für eine Weile vergessen.

Ich atme tief aus und beginne dann langsam, meine Finger über die weißen und schwarzen Tasten zu bewegen. Als ob diese nie etwas anderes getan hätten, schweben sie über die Klaviatur und erhellen den Raum mit einem klaren Klang.

Doch diesmal ist etwas anders. Zu dem Schweben kommt ein Ziehen hinzu und schon nach kurzer Zeit beginne ich aus den Wolken zu fallen. Zu den sanften Klängen gesellt sich ein tiefer Unterton, der schon bald mein Spielen beherrscht. Und über den klaren Gedanken entsteht ein Schmerz, der meine Freiheit zerstört.

Abrupt halte ich inne und ein letzter falscher Ton hallt durch das Zimmer. Ich merke, dass mein Atem schneller geht, als ich meinen Blick langsam senke und meine rechte Hand betrachte, die leicht zittert. Der Mittelfinger ist noch immer angeschwollen und ein seltsames Ziehen und Pochen geht von ihm aus. Die Wunde am Zeigefinger brennt. Mein Herz rutscht eine Etage tiefer.

Kurz verharre ich so, ehe ich die Finger erneut in Position bringe.

Wer rastet, verliert. Wer zögert, verliert.

Abermals beginne ich zu spielen, doch es ist, als hätte mir jemand einen Flügel gebrochen. Der Platz über den Wolken bleibt mir verwehrt, die Last ist zu groß, um in Schwerelosigkeit zu verharren und die rein weißen Klänge sind mit Blut getränkt.

Wieder höre ich auf, nur um ein weiteres Mal von vorne zu beginnen. Der Schmerz durchzuckt meine Hand und fährt durch meinen ganzen Körper, doch anstatt das Trauerspiel zu beenden, hämmere ich nur noch wilder auf die unschuldigen Tasten ein und schon bald verwandelt sich das sanfte Berühren der Klaviatur in ein zorniges Klopfen.

Wer aufhört, verliert. Wer nachgibt, verliert.

Ich muss spielen. Ich muss es durchziehen. Es gibt keinen anderen Weg. Was wäre die Alternative? Mich schonen? Den Wettbewerb absagen? Was, wenn der Finger doch gebrochen ist? Was, wenn er nicht mehr richtig heilt? Was wird mein Vater sagen? Was werden die anderen sagen?

Die Schmerzen werden stärker und mein Spielen noch verbissener.

Mein Vater wird enttäuscht sein. Ich werde enttäuscht sein. Ich darf keine Fehler machen. Und wenn ich welche mache, dann muss ich sie ausbügeln. Keine Falte darf zu sehen sein. Sonst werde ich fallen. Tief und unaufhaltbar.

Im gleichen Takt, in dem ich auf die Tasten schlage, schießen auch die Gedanken in meinen Kopf, bis ich irgendwann das Gefühl habe, keine Luft mehr zu bekommen.

Wer rastet, verliert. Wer nicht immer alles gibt, verliert.

Der Trick ist nicht, sich seine Energie besser einzuteilen. Der Trick ist, immer weiterzumachen, auch wenn man denkt man kann nicht mehr.

Mein Spielen wird fordernder und schärfer, die Melodie, die eigentlich an dieser Stelle sanft und verspielt klingen soll, erfüllt den Raum wie das Zischen einer angreifenden Schlange. Der Kampf endet in einem verzerrten Aufschrei, als meine Hand endgültig rebelliert und einen so heftigen Schmerzstoß durch meinen Körper schickt, dass mir ein ersticktes Aufstöhnen entfährt.

Stille kehrt ein, doch gleichzeitig ist es unendlich laut in meinem Kopf. Ich sehe nicht mehr hinunter auf meine Finger, sondern sitze einfach nur da, während meine innere Welt im Chaos versinkt.

Warum?

Ich merke gar nicht, wie ein paar Tropfen meine Wange hinunter rinnen und erst, als ich höre, wie die Eingangstüre geöffnet wird, stehe ich mit einem Ruck auf, verlasse das Zimmer, das mir sonst immer Geborgenheit geschenkt hat und fliehe nach oben, wo ich mich auf meinem Bett zusammenkauere.

***

Wider erwarten verbringe ich die nächsten Stunden ohne Störung in meinem Zimmer, zucke jedoch bei jedem Geräusch von unten leicht zusammen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis mein Vater nachhause kommt, doch die Gedanken daran schiebe ich beiseite. Draußen ist es schon dunkel, als ich vorsichtige Schritte die Treppe nach oben kommen höre. Sofort erkenne ich, dass es nicht mein Vater sein kann und als die Schritte dann ein paar Mal unschlüssig vor meiner Tür auf und ab gehen, bin ich mir sicher, dass es weder mein Manager noch die Putzfrau ist, sondern meine Mutter. Erst nach einigen Minuten höre ich ein sanftes Klopfen.

„Chris? Wie geht es dir? Willst du nicht zum Essen runter kommen?"

Ich biete ihr nicht an herein zu kommen und antworte erst nach einer Weile. „Ich brauche jetzt nichts, ich-", krächze ich, doch werde von meiner Mutter unterbrochen.

„Was?"

„Ich hole mir später was", sage ich etwas lauter und merke wie brüchig meine Stimme immer noch klingt. Meine Mutter scheint es jedoch nicht zu hören.

„Ist gut", meint sie widerwillig. „Falls du doch etwas brauchst, ich bin unten. Dein Vater hat noch ein Meeting und kommt heute erst sehr spät nachhause." Deshalb hatte ich also bisher Ruhe. Trotzdem frage ich mich, warum sie mir das extra erzählt. „Wie geht es deinen Verletzungen?", fragt sie dann nach einer kurzen Pause und ich halte den Atem an. Ich bin dankbar, dass sie meinem Vater scheinbar nichts erzählt hat, doch trotzdem bin ich nicht bereit, mich ihr als Gegenleistung anzuvertrauen.

„Gut", ist alles was ich antworte.

Eine Weile lang herrscht Stille und erst nachdem meine Mutter realisiert hat, dass sie keine detailliertere Antwort bekommen wird, zieht sie endlich ab. Ich spüre ein hohles Gefühl im Magen, das nicht nur der Hunger erzeugt und schiebe die Enttäuschung von mir weg, als ihre Schritte verklingen. Gleichzeitig spüre ich einen Hauch Erleichterung, obwohl ich weiß, dass sich die Konfrontation mit meinen Problemen und mit meinem Vater damit nur auf morgen verschiebt.

Wer rastet, verliert. Wer aufhört, verliert. Wer wegläuft, verliert.

Habe ich jetzt verloren?

Mit nassen Wangen, einem pochendem Kopf und Schmerzen in der Hand falle ich nach langer Zeit endlich in einen unruhigen Schlaf.

Falling for You ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt