Fourty-One

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Die Abendluft ist kühl und ich verstecke meine Finger in den Ärmeln des großen Pullovers und ziehe mir die Kapuze über den Kopf. Aus den Augenwinkeln sehe ich Leo lächeln und ich drehe mich mit geröteten Wangen von ihm weg, als ich realisiere, wie sehr der Kapuzenpulli nach ihm riecht. Im Endeffekt bin ich froh, dass ich unsere Diskussion, einen Pullover von Leo anzuziehen, verloren habe. Denn genauso wie Leos warme Blicke schafft dieser es, die Kälte in meinem Inneren zu vertreiben.

Schweigend spazieren wir durch die bereits dunklen Straßen und eine Wehmut schleicht sich in mein Herz, als wir an die Kreuzung gelangen, die uns nur noch wenige Meter von meinem Zuhause trennt. Dass ich Leo vor einer halben Stunde noch davon abbringen wollte, mich nachhause zu begleiten, kommt mir jetzt dumm vor und ich bereue es fast, nicht einfach bei ihm geblieben zu sein. Hätte ich nicht Angst davor gehabt, seine Eltern heute noch kennen zu lernen, hätte ich das vielleicht sogar getan.

Meine Schritte werden langsamer und auch Leo hält neben mir an, als ich einige Meter vor meinem Haus stehenbleibe. Als könne er Gedanken lesen, höre ich den Jungen neben mir seufzen.

„Danke fürs Herbringen", murmle ich in den Pulli, doch Leo versteht, denn ich sehe ihn leicht nicken.

„Gern."

„Und danke für alles andere."

Die Luft zwischen uns scheint zu vibrieren und obwohl ich das Gefühl habe, dass wir einiges an Kraft aufbringen müssen, um uns nicht näher zu kommen, verharren wir in einigem Abstand voreinander und sehen uns einfach nur an.

„Danke dir."

Ich schnaube leicht bei Leos Worten, weil ich mir absolut nicht vorstellen kann, wofür zum Henker er mir dankbar sein sollte, doch gleichzeitig huscht ein Lächeln auf mein Gesicht.

„Wenn du irgendwas brauchst oder dir langweilig ist, du weißt wo du mich findest", sagt Leo und bringt damit mein Herz zum Stolpern. „Na gut, dann bis..." Er stoppt und ich sehe, wie er mit sich selbst ringt. Anstatt jedoch den Satz zu beenden, kommt er ein kleines Stück näher, legt mir dann aber nur die Hand auf die Schulter, als er meinen Blick bemerkt, der unruhig unsere Umgebung nach möglichen Augenzeugen absucht. „Bis dann."

Innerlich würde ich mich selbst gerne für meine Paranoia ohrfeigen, doch ich schaffe es nicht, sie zu überwinden.

Noch nicht?

„Bis dann", murmle ich, schenke dem Jungen vor mir ein ehrliches Lächeln und zwinge mich dann dazu mich umzuwenden und mit festen Schritten weiterzugehen, bis ich die Eingangstüre erreicht habe. Bevor ich sie öffne und hindurchtrete, wandert mein Blick ein letztes Mal zurück und ich sehe Leo lächelnd an der Kreuzung stehen, bis ich die Tür, die sich plötzlich so schwer und träge anfühlt, endlich hinter mir schließe.

Geräuschvoll lasse ich die Luft aus meinen Lungen entweichen und bin noch gar nicht so richtig in der Realität angekommen, als mich eine Stimme zusammenzucken lässt.

„Chris?"

Erschrocken sehe ich auf und entdecke meine Mutter im dunklen Flur stehen, der allerdings in dieser Sekunde von hellem Licht geflutet wird.

„Wo warst du denn so lange?"

All die Ausreden, die ich mir zurechtgebastelt habe und mein Vorhaben, lautlos und unbemerkt in mein Zimmer zu gelangen, verpuffen innerhalb von wenigen Sekunden zu Staub, denn als meine Mutter auf mich zukommt, werden ihre Augen langsam größer und sie schlägt die Hände vor den Mund.

„Chris, was ist mit deinem Gesicht passiert?", haucht sie und ich lasse es zu, dass sie mir die Kapuze langsam vom Kopf schiebt. „Oh Gott, wie-?"

„Können wir woanders weiterreden?", gebe ich müde von mir und merke erst jetzt, wie viel Kraft mich dieser ganze Tag eigentlich gekostet hat. All meine Glieder schmerzen und das Pochen in meinem Kopf schiebt sich nun wieder in den Vordergrund.

„Natürlich." Mit besorgtem Gesichtsausdruck bugsiert mich meine Mutter in die Küche und platziert mich auf einem der Stühle, während sie sich vor mich hinhockt, um mein Gesicht genauer unter die Lupe zu nehmen.

„Dein Auge. Und deine hübschen Wangen", flüstert sie und inspiziert jeden Millimeter, bis sie mir endlich in die Augen sieht. Wäre ich der Chris von gestern, hätte ich ihre Hände weggeschlagen, die mir nun sanft übers Gesicht fahren und hätte sie angeschrien. Wäre ich der Chris von vor ein paar Wochen, hätte ich mich einfach abgewandt und wäre in meinem Zimmer verschwunden. Doch jetzt bin ich müde und habe weder die Energie noch den Willen, dieser Situation aus dem Weg zu gehen. Wahrscheinlich ist es auch besser so.

„Ich war schon beim Arzt", erkläre ich meiner Mutter und sie nickt und wirkt zumindest ein kleines bisschen erleichtert.

„Wie ist das passiert?" Ihre braunen Augen sind tief und unergründlich. „Wer war das?"

Ich seufze. Meine Mutter ist nicht dumm.

„Ein Idiot, der seinen Frust an mir auslassen wollte."

An ihrem Blick sehe ich die Überraschung über meine bereitwillige Auskunft. Ich rechne schon damit, dass sie mich weiter ausfragt, doch dann steht sie langsam auf und geht zu einem der Küchenschränke.

„Tut es sehr weh?"

Als ich anstatt zu nicken mit den Schultern zucke, hält sie mir eine Packung Medikamente hin und füllt mir ein Glas mit Wasser ein. Verwirrt beobachte ich, wie sie erneut aufsteht und fühle mich in meine Kindheit zurückversetzt, als sie eine Tasse mit Milch in der Mikrowelle warm macht und Kakaopulver hinein rührt.

„Danke", sage ich leise.

„Willst du mir mehr erzählen?" Meine Mutter deutet auf mein zerschundenes Gesicht, doch ich schüttle den Kopf. „Chris, du weißt, dass du mir alles sagen kannst. Ich erzähle es auch nicht deinem Vater."

Stirnrunzelnd sehe ich auf. „Ach ja?"

„Das würde ich nie machen, das weißt du."

„Genauso wenig, wie du ihm meinen Physiktest nie zeigen würdest? Bei dem ich nur durchschnittlich gut war anstatt perfekt?" Jetzt dringen doch einzelne Fetzen meines alten Ichs aus meinem Inneren hervor und meine Mutter zuckt zurück, als hätte sie sich an meinen Worten verbrannt. Sie schluckt, sieht mich dann jedoch eindringlich an.

„Das habe ich auch nicht getan."

Ich will schon eine giftige Antwort ausspucken, halte dann jedoch inne, als ich ihrem festen Blick begegne. Meine Mutter ist jemand, der den Menschen nie lange in die Augen sieht. Doch jetzt gerade sehe ich genau in diesen Augen eine Aufrichtigkeit, die mich verstummen lässt.

„Aber wie-" Im selben Augenblick gebe ich mir in Gedanken selbst die Antwort und als ich meine Mutter seufzen höre, weiß ich, dass ich richtig liege.

„Er durchwühlt meine Sachen?", frage ich sprachlos, und schüttle den Kopf, obwohl mich das längst nicht mehr wundern sollte.

„Tut mir leid, dass ich dir das nicht gesagt habe. Aber es war nicht das erste Mal."

Müde reibe ich mir über die Stirn. Mein Vater hatte schon immer Probleme, zu erkennen, wann er zu weit geht, doch diese Grenze ist eindeutig eine zu viel, die er überschritten hat.

„Das kann doch nicht wahr sein."

Und der Kerl nennt sich Vater?

Eine Weile lang ist es still und ich versuche, die neue Erkenntnis zu verdauen. Meine Mutter gibt mir Zeit, doch gerade als ich mich bereit fühle, das Gespräch fortzuführen, werden wir durch das Geräusch der zufallenden Haustüre unterbrochen.

Mein Blick wandert zu meiner Mutter, die sich wie auf Knopfdruck wieder dem Spülbecken widmet.

Wie immer hat mein Vater ein perfektes Timing.

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