Thirty-Four

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Energisch schließe ich die Eingangstüre und lasse meinen Blick kurz in Richtung des Klavierzimmers wandern, steuere dann jedoch die Küche an. Irgendwie habe ich die Befürchtung, dass nicht einmal die Musik jetzt gerade dazu imstande ist, meine Laune zu heben, also krame ich in einer Küchenlade nach einer Tafel Schokolade und schiebe mir ein Stück nach dem anderen in den Mund. In diesem Moment vibriert mein Handy und als ich Mileys Namen am Display lese, glaube ich schon fast, dass sich meine beste Freundin wieder einmal darüber beschwert, dass ich trotz all des Süßkrams nicht dicker werde. Doch natürlich ist das Blödsinn, schließlich kann Miley nicht wissen was ich gerade tue.

Hey, Chris. Rick und Leo haben heute leider keine Zeit, ich würde aber trotzdem gerne mit dir plaudern. Hast du schon was vor?

Schokoladekauend lese ich die Nachricht und frage mich, was Miley zu bereden hat. Irgendwie klingt es, als hätte sie etwas zu erzählen.

„Willst du nicht lieber was Richtiges essen?", unterbricht meine Mutter, die gerade durch die Tür spaziert, meine Gedanken und ich zucke ertappt zusammen.

„Keinen Hunger", murmle ich, doch im nächsten Moment stellt mir meine Mutter auch schon einen Teller Spaghetti vor die Nase. Seufzend werfe ich die leere Schokoladenpackung in den Müll und stochere dann in meinen Nudeln herum.

„Was ist denn los? Die letzten Tage warst du doch so gut gelaunt?"

Homo. Vom anderen Ufer. Ziemlich eklig.

„Nichts ist los."

„Chris, ich weiß, dass ich wahrscheinlich nicht immer die beste Hilfe für dich bin, aber-"

In dem Moment, als ich meiner Mutter einen verwirrten Blick zuwerfe, unterbricht sie jedoch ihren eigenen Satz und blickt zur Tür, durch die jetzt auch mein Vater in die Küche kommt. Wie immer ist sein Timing perfekt. Meine Mutter, die gerade eben noch gewirkt hat, als würde sie sich einen ganzen Berg von der Seele reden wollen, verwandelt sich wie auf Knopfdruck in einen stumme Puppe, die ihrem Mann ebenfalls Mittagessen anbietet. Mein Appetit ist mir endgültig vergangen.

„Chris." Die Stimme meines Vaters klingt wie ein Kanonenschuss, als ich aufstehen will und ich erstarre mitten in der Bewegung.

„Hm?"

„Was ist das?" Im ersten Moment blicke ich nur verwirrt auf das Stück Papier, das mir mein Vater hinhält, bis ich endlich meine eigene Schrift darauf erkenne.

„Ein Physik-Test?", antworte ich, obwohl ich genau weiß, dass mein Vater etwas anderes meint. Das hohle Gefühl in meiner Magengegend wird wieder stärker und ich merke, wie ich automatisch meine Arme vor der Brust verschränke und ein Stück zurückweiche. Mein Vater geht nicht auf meine überflüssige Antwort ein, sondern tippt auf die rote Zahl am unteren Ende des Blattes.

„Eine Drei?", fragt er, doch es klingt wie ein Schimpfwort. Wieder starre ich die eisblauen Augen vor mir an, versuche mir keine Blöße zu geben und mein Pokerface nicht verrutschen zu lassen. Mittlerweile schaffe ich es ziemlich lange, seinen Blicken standzuhalten. „Wie ist das passiert?"

Halleluja, ruft den Papst an, Christopher Cornwall hat gesündigt.

„Was soll das?", fragt mein Vater weiter, als ich nicht antworte.

Werden wir jetzt aus unserem Wohnviertel geschmissen? Muss ich ab jetzt einen Sack über mein Gesicht stülpen und in Schande nackt durch die Stadt rennen? Mir ‚Ich soll keine Dreien schreiben' in meine Hand ritzen?

Ich verkneife mir all die dummen Bemerkungen, die mir sofort in den Kopf schießen und zucke nur leicht mit den Schultern.

„Das geht so nicht weiter", poltert mein Vater los und ich konzentriere mich darauf, meinen Blick fest auf seine Augen gerichtet zu lassen und nicht zu blinzeln. „Ich habe dir gesagt, dass du dich nicht ablenken sollst, ich habe dich nicht erzogen, dass du auf Partys gehst, Alkohol trinkst, dummen Schulchören beitrittst oder durch die Stadt gaunerst und schlussendlich als lausiger Mittelklassearbeiter endest."

„Es ist eine Band, kein Chor", murmle ich, doch mein Vater hört mir nicht zu.

„Ich wusste doch, dass da nichts Gutes dabei rauskommt. Du bist in letzter Zeit nicht bei der Sache, ziehst dir unnötige Verletzungen zu, verbringst zu viel Zeit vor dem Fernseher und mit Miley, ..."

Der Redefluss verwandelt sich in einen Wasserfall und ich merke erst, als ein altbekanntes Stechen durch meine Hand fährt, dass ich diese zur Faust geballt habe. Meine Mutter steht an der Spüle und wäscht ein paar Pfannen ab, ganz so als würde sie uns überhaupt nicht wahrnehmen.

„Das hört jetzt alles auf. Ab jetzt lernst du wieder mehr und übst wieder richtig. Dein Auftritt gestern war gut, aber ich habe dir schon oft erklärt, dass man sich auf so etwas nicht ausruhen darf."

„Es war eine einzige Party. Und die Verletzung war ja keine Absicht", zische ich leise, komme damit allerdings nicht gegen den Schwall aus Worten, die den Mund meines Vaters gemeinsam mit ein paar Speicheltröpfchen verlassen, an.

„Reiß dich endlich zusammen Chris. Schmeiß nicht alles weg, was ich für dich aufgebaut habe!"

Rauschen. Da ist nur Rauschen in meinen Ohren. Diesmal ist es aber keine Angst oder Nervosität, die es auslösen, diesmal klingt das Rauschen scharf und dröhnend.

„Ich werde dir einen Wochenplan zusammenstellen und Gary meldet dich gleich morgen für den Acadamy-Wettbewerb in der Nachbarstadt an."

Wenn es bisher meine Taktik war, die Predigt einfach abzusitzen und danach wortlos zu gehen, weiß ich in diesem Moment, dass das keine Option mehr ist. „Was?", frage ich etwas lauter und schiebe meinen Teller geräuschvoll zur Seite. „Ich brauche keinen Wochenplan und ich habe in nächster Zeit ziemlich viele Dinge für die Schule zu tun, da kann ich nicht schon wieder bei einem Wettbewerb-"

„Du weißt, dass du dir jetzt keine Pause gönnen kannst. Gerade jetzt musst du verbissen daran arbeiten, dir deine Position an der Spitze zurückzuholen. Du kannst keinen zweiten Platz auf dir sitzen lassen."

Ein Stich fährt durch meinen Körper und zwingt mich nun doch dazu, meinen Blick zu senken.

2. Platz: Christopher Cornwall. Nicht gut genug. Versager. Homo. Eklig.

Das Hochgefühl, das ich heute Morgen noch in mir gespürt habe, fühlt sich jetzt an wie ein weit entfernter Traum und die Übelkeit meldet sich zurück.

Was tue ich hier? Hat er nicht recht? Ich muss mich doch mehr anstrengen? Meine Fehler wiedergutmachen?

Ich bin kurz davor, einfach in mich zusammenzusacken und aufzugeben, doch da ist ein Funken in meinem Inneren, ein Funken, der in mir brodelt und dessen Flamme diesmal nicht ausgeht, sondern noch stärker wird.

„Ich halte mich an keinen beschissenen Wochenplan, ich kriege das selber hin. Und ich gehe nicht zu diesem blöden Wettbewerb. Spiel doch selber. Ich habe ein verdammtes Leben."

Für einen kurzen Moment sehe ich die Überraschung im Gesicht meines Vaters, als ich ihm die Sätze ins Gesicht schleudere und dann ohne auf seine Widerworte zu reagieren aus der Küche stürme und die Türe hinter mir zuknalle.

Falling for You ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt