Nine

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Der nächste Tag zieht wie eine Karawane in der Ferne an mir vorbei und ich verlasse mein Zimmer nur, um auf die Toilette zu gehen und mir das Essen zu holen, das mir meine Mutter bereitgestellt hat. Zum Glück ist heute Samstag, denn einen normalen Schultag hätte ich auf keinen Fall überlebt.

Es ist schon fast sechs, als ich meinem Hungergefühl abermals nachgeben will und mich aus dem Zimmer schleiche, um in der Küche nach etwas Essbarem zu suchen. Gerade will ich meinen Fuß auf die Treppe setzen, da höre ich plötzlich die Eingangstüre aufgehen und erkenne die tiefe Stimme meines Vaters.

„... schon lange nicht mehr gesehen. Geht es dir gut? Was macht die Schule?"

Blitzartig entferne ich mich wieder von der Treppe und presse mich an die Wand neben den Stiegen. Langsam bewege ich mich auf mein Zimmer zu, den Atem angehalten, doch verharre dann in meiner Bewegung, als ich eine zweite Stimme höre.

„Ja, alles bestens. Die Schule ist auch wie immer. Aber dauert ja nicht mehr lange bis zum Abschluss."

Was macht Miley hier?

„Richtig, ihr beide werdet ja schon in einem Jahr fertig und dann beginnt der Ernst des Lebens. Aber ich schweife ab. Du willst zu Chris nehme ich an?" Da ich keine Antwort von Miley höre, vermute ich, dass sie nickt. „Ich denke er ist oben. Wie hat er sich gestern bei der Probe gemacht?"

Wenn ich bisher noch das Gefühl hatte, schwer atmen zu können, dann fühlte es sich spätestens jetzt an, als würde ich ersticken.

„Er hat alles, was mein Großvater angemerkt hat, umgesetzt. Und diesmal auch den Mittelteil sauber gespielt", höre ich Miley antworten und sehe perplex auf.

Was?

„Gut. Er darf nicht nachlassen, sonst bringt das alles nichts."

„Ach, er bemüht sich, wie immer. Ich kenne niemanden, der sich mehr in eine Sache hineinsteigern kann als Chris."

„Nun ja, ich denke er hat noch viel Luft nach oben. Er hat seine Grenzen noch lange nicht erreicht", widerspricht mein Vater und Miley bleibt still. „War schön, dich mal wieder gesehen zu haben", höre ich meinen Vater noch sagen, da betritt auch schon jemand die Treppe und keine Minute später steht meine beste Freundin plötzlich vor mir.

„Oh, Chris, was machst du-"

Schnell halte ich ihr meine unverletzte Hand vor den Mund und ziehe sie in mein Zimmer. Leise schließe ich die Tür und lasse mich auf mein Bett sinken.

„Chris, alles in Ordnung?" Miley steht vor mir und sieht mich an, als wäre jemand gestorben. „Wie geht es deiner Hand?", fragt sie nach einer Weile, in der ich immer noch nichts gesagt habe und lässt sich dann neben mir auf dem Bett nieder. „Ist sie doch gebrochen?", fragt meine Freundin leise und nimmt ohne zu Fragen vorsichtig meine Hand in ihre. „Ach du- was hast du gemacht?" Entsetzt starrt sie auf den geschwollenen Finger, der heute noch größer wirkt als gestern und auf das wenige getrocknete Blut, das gestern beim Spielen meine Hand beschmutzt hat.

„Sie ist nicht gebrochen", murmle ich leise und ziehe die Hand wieder aus ihrem Blickfeld.

„Du solltest sie doch einschmieren und verbinden."

„Bist du deshalb gekommen? Um Krankenschwester zu spielen?", frage ich spitz, doch sehe Miley nicht an. Meine Freundin seufzt nur und stützt sich mit den Ellenbogen auf ihren Beinen ab.

„Ich wollte nach dir sehen", sagt sie sanft und ich merke, wie meine Maske langsam zu bröckeln beginnt. Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals, den ich bockig weghuste.

Wieder ist es eine Weile lang still, wir sitzen einfach nur da, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Früher haben wir viel Zeit hier in diesem Zimmer verbracht. Stundenlang sind wir auf dem Bett gesessen und haben uns Geschichten erzählt. Lachend haben wir Fangen oder Verstecken gespielt und dann Konzerte mit einem imaginären Orchester vor einem Fantasiepublikum gegeben. Als Enkelin einer der besten Klavierlehrer dieses Landes und als Sohn eines ehemals halbwegs bekannten Klavierspielers war das nicht verwunderlich gewesen.

Falling for You ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt