Twelve

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„Warum ist hier über der Bar ein Wohnzimmer?", frage ich nach einer Weile. Mein Knie schmerzt leicht, doch ich bleibe trotzdem stehen.

Leo lacht. „Was hast du gedacht, warum Rick genau hier feiert? Die Bar unten gehört seinen Eltern. Und das hier ist ihre Wohnung."

Überrascht blicke ich mich noch einmal um, dann schnaube ich. „Natürlich. Hätte ich eigentlich wissen müssen bei der Einrichtung."

Leo lacht wieder und ich frage mich langsam, ob er eigentlich auch ernst oder traurig dreinschauen kann. Entweder man sieht ihn lächelnd oder er sieht aus, als würde er seine Umwelt gar nicht wahrnehmen und starrt unbeteiligt durch die Gegend. Heute ist die meiste Zeit ersteres der Fall.

„Ja, die Bar ist schon etwas speziell. Aber ich find's besser als normale Clubs."

Natürlich sagt Leo das. Mit seinen weiten Hosen und Hippie-Shirts passt er auch gut in dieses Etablissement. Sogar die Wohnung hier ähnelt vom Stil her der Bar unten und ich stelle fest, dass Leo sogar besser hierher passt als Rick, der auf den ersten Blick eher wirkt wie ein klassischer Sportler. Nur an der Brille und wenn Rick den Mund aufmacht, erkennt man den Nerd, der in ihm steckt und spätestens wenn er nicht aufhört seine Sprüche zu klopfen, ist sein ‚Cooler-Sportler' Image Geschichte. Ich kann immer noch nicht verstehen, warum Miley sich trotzdem so oft mit ihm abgibt.

Und was mache ich selbst gerade? Wohnungsführung mit dem Öko-Freak. Ist das die Schuld des Alkohols?

„Willst du auch noch was?", fragt Leo mit einem Blick auf meinen leeren Becher, doch nach kurzem Zögern schüttle ich den Kopf. Ich habe noch nicht viel getrunken, doch es reicht, um mich leichter fühlen zu lassen und meine Probleme für einige Augenblicke beiseite zu schieben. Außerdem sind die paar Schlucke schon mehr als ich überhaupt trinken hätte sollen. Zumindest wenn es nach meinem Vater geht.

„Schönes Zimmer. Ich sehe hier nur keine Soundanlage", stelle ich dann trocken fest und sehe mich wieder um.

„Wir können ja nachher wieder runtergehen, wenn du die Soundanlage wirklich sehen willst", meint Leo, der meine Worte diesmal zu ernst nimmt.

„Schon gut. Wahrscheinlich wäre ich eh nur enttäuscht", antworte ich und merke, wie sich meine Mundwinkel ohne meine Erlaubnis zu einem leichten Grinsen verziehen.

„Du wirst dich wundern. Wäre nicht das erste Mal, dass ich Recht behalte."

„Ach ja? Verstehst du überhaupt irgendwas von Musik?"

„Vielleicht?", sagt Leo vage und hält mich mit seinem Blick gefangen, während er an seinem Drink nippt. Ich verschränke die Arme und sehe ihn abwartend an. „Vielleicht lasse ich mich zu dem Thema aber auch gerne belehren?", sagt der Junge und sieht mich nun seinerseits auffordernd an. Ich schnaube und schweige. „Warum hast du angefangen, Klavier zu spielen?" Das belustigte Funkeln in seinen Augen ist noch da, doch seine Stimme klingt jetzt ernster. Neugieriger.

Ein Seufzen entkommt meinen Lippen während ich überlege. „Der Flügel meines Vaters hat mich schon immer fasziniert. Und der Raum in dem er steht. Dort drinnen herrscht eine besondere Stimmung, ich habe mich oft als Kind einfach hineingeschlichen und mich ans Klavier gesetzt, ohne zu spielen." Leo hört aufmerksam zu, als ich spreche. „Es war aber auch nicht verwunderlich, dass ich damit angefangen habe, weil mein Vater früher auch lange gespielt hat. Obwohl er bereits aufgehört hat, als ich dann damit begonnen habe."

Leo nickt und ich frage mich, ob er von Miley weiß, dass mein Vater früher ebenfalls gespielt hat oder ob er den Artikel in der Zeitschrift gelesen hat.

„Wie fühlt es sich an?"

Stirnrunzelnd blicke ich wieder zu ihm.

„In diesem Raum zu sitzen und Klavier zu spielen meine ich", ergänzt er und ich schaffe es wieder nicht, die Überraschung in meinem Gesicht zu verbergen. „Wie ist das Gefühl, das dich dazu gebracht hat, diesen Raum und das Klavier zu lieben? So gerne zu spielen, dass du fast deine komplette Freizeit dafür opferst und all die Wettbewerbe gewinnst?"

Ich denke nach. Meine Gedanken wandern zurück an verregnete Tage und im Wind wehende Vorhänge, die zu den sanften Klängen im Raum tanzen. Das Gefühl meiner Finger, die wie von allein über die Tasten schweben, erfasst meinen Körper und ich spüre wieder das Erstaunen darüber, dass ich es bin, der solche Klänge erschaffen kann. Ich und das Klavier. Und dieser Raum, der davon ausgefüllt wird und damit eine neue Welt erschafft. Eine friedliche Welt. Eine reine Welt.

„Wie fliegen", sage ich und lasse die Luft langsam aus meiner Lunge entweichen. „Wie schweben. Als müsste man keine Angst mehr haben zu fallen."

Mein Blick ist in die Ferne gerichtet und ich erkenne mit Wehmut, dass es schon viel zu lange her ist, seit ich dieses Gefühl das letzte Mal hatte. Obwohl ich fast jeden Tag spiele, klappt es nur noch manchmal, mich komplett in dieser anderen Welt zu verlieren.

Wer rastet, verliert. Wer loslässt, verliert. Wer den Bezug zur Realität verliert, fällt.

Schnell schiebe ich die fordernde Stimme in den Hintergrund und sehe wieder zu Leo, der mir stumm zugehört hat.

„Das würde ich gerne selbst erleben", meint er mit einem Lächeln und ich frage mich, ob er das nur metaphorisch meint oder ob er diesen Raum wirklich mit eigenen Augen sehen will. Ich räuspere mich und sehe wieder weg.

„Wo ist hier die Toilette?", frage ich dann und Leo bedeutet mir, ihm zu folgen.

Er führt mich wieder hinaus auf den Gang und dann zu einer Tür auf der linken Seite. Ich nicke nur und betrete den kleinen Raum dahinter. Ich muss nicht wirklich auf die Toilette, doch ich habe das Gefühl, einen kurzen Moment für mich zu brauchen, also stelle ich mich nur vor den Spiegel und drehe dann den Wasserhahn auf, um mir ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht zu spritzen. Seufzend betrachte ich mein Spiegelbild. Meine schwarzen Haare liegen platt auf meinem Kopf, fallen mir ins Gesicht und meine Haut wirkt noch blasser als sonst. Die blauen Augen sehen mich mit einem stechenden Blick an, doch auch dieser kann nicht ganz von den Augenringen ablenken, die mein Gesicht zieren. Wenn ich genau hinhorche, spüre ich die Müdigkeit, die meine Glieder ausfüllt, doch der Alkohol überdeckt die Schwere, die wie ein Schatten über meinem Gesicht liegt.

Als ich die Toilette wieder verlasse, steht Leo lässig an die Wand gelehnt und wirft mir wieder ein Lächeln zu. Unschlüssig bleibe ich stehen, als Leo keine Anstalten macht, entweder ins Wohnzimmer oder zurück nach unten zu gehen.

„Bekomme ich eine Vorführung, wenn es deinen Fingern wieder besser geht?"

Ich starre den Jungen vor mir perplex an.

Eine Vorführung? In meinem Haus? An meinem eigenen Flügel? Warum sollte Leo je zu mir nachhause kommen? Warum sollte ich ihn je zu mir einladen?

Normalerweise hätte ich jetzt wohl einen sarkastischen Kommentar dazu abgegeben oder ihm mit einer gehörigen Portion Überheblichkeit zu verstehen gegeben, dass das garantiert nie passieren würde. Doch aus irgendeinem Grund finden die Worte den Weg zu meinem Mund nicht und als Leo sich dann langsam von der Wand abstößt und auf mich zukommt, blinzle ich nur.

Er bleibt vor mir stehen und sieht mich an. Ich öffne meinen Mund, doch all meine coolen Sprüche und die Empörung über sein seltsames Verhalten, schaffen es nicht nach draußen, also schließe ich ihn wieder. Seine grünbraunen Augen starren in meine blauen und ich mache einen Schritt nach hinten. Es ist, als könne er direkt durch meine Augen hindurch in meine Seele blicken. Schluckend weiche ich weiter zurück, als Leo immer näher kommt und spüre dann die Wand an meinem Rücken.

Mein Puls beschleunigt sich, doch ich kann mich nicht rühren. Leo sieht mich an. In seinem intensiven Blick liegt etwas Fragendes. Die Sekunden verstreichen, aber ich sehe nicht weg, obwohl meine innere Stimme schreit, dass ich weggehen oder etwas sagen soll.

Wer die Maske abnimmt, verliert. Wer sich fallen lässt, verliert. Wer-

Dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann, schiebe ich auf den Alkohol. Die Tatsache, dass ich kein Wort herausbringe, auf meine Müdigkeit. Doch als Leo langsam seine Hand hebt und sie mir in den Nacken legt, bevor er sich zu mir hinunter beugt, setzt mein Verstand komplett aus. Und als er seine Lippen sanft auf meine legt, steht plötzlich alles Kopf.

Falling for You ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt