Thirty-Six

1.4K 168 101
                                    

Mein Inneres gleicht einer Aschewüste, einer Schneeschicht aus verbrannten Worten und Gefühlen. Immer wieder wird die Glut leicht entfacht und dort wo die Flammen gewütet haben, bleibt eine schwarze Finsternis zurück, die mich von innen verschlingt.

Die letzten Tage habe ich kurz gedacht, fliegen zu können. Doch als dann ein Sturm aufgekommen ist, der Regen auf meine zarten Flügel geprasselt ist und ein Blitz mich gestreift hat, bin ich gefallen. Tiefer als zuvor.

Der gestrige Tag hätte in meinen schlimmsten Alpträumen nicht beschissener laufen können und es fühlt sich an, als hätte sich die Welt gegen mich verschworen. Trotzdem hat der neue Tag begonnen und ich betrete genau wie gestern das Schulgebäude.

An diesem Schultag bleibt sogar Ethan still, als ich mich auf den Platz neben ihm sinken lasse und sieht mich nur mit einem Stirnrunzeln an. An diesem Tag, wendet Miley den Blick ab, als ich ihr am Schulflur begegne und ich ignoriere den vorwurfsvollen Ausdruck in Ricks Gesicht, als er mich ansieht und gleichzeitig seinen Arm tröstend um Mileys Schulter legt. An diesem Morgen rückt die Verwunderung darüber, dass Leo nicht bei Rick und Miley ist, schnell in den Hintergrund.

Da ist keine Wehmut mehr, kein Schweben, keine Leichtigkeit. Nur Schmerz.

Wer Gefühle zulässt, verliert.

Was habe ich mir dabei gedacht? Wieso habe ich all die Worte, die mich mein Vater gelehrt hat, mit einem Mal über Bord geworfen? Wieso habe ich mich von der Felswand vor mir abgewandt, den Blick vom Gipfel abweichen lassen?

Wer rastet, verliert.

Wieso habe ich angehalten? Die Wolken beobachtet, den Vögeln hinterhergesehen?

Ich starre das Blatt Papier vor mir an, doch die Sätze sehen aus, als wären sie in einer Geheimsprache verfasst worden.

„Christopher?"

Mein Vater hat recht. Ich habe den dümmsten Fehler begangen, den ich hätte begehen können. Ich habe den Fokus verloren.

„Christopher? Gibt es ein Problem?" Erst als der Lehrer vor meinen Tisch stehenbleibt, zucke ich zusammen und blicke auf. „Kannst du das Gedicht auf Seite einhundertsechsundzwanzig vortragen? Oder willst du lieber zum Schularzt? Du siehst blass aus." Alle Augen sind auf mich gerichtet, ich spüre die Intensität ihrer Blicke und fühle mich plötzlich nackt.

Versager. Homo. Eklig.

Ich bin selbst schuld an meiner Misere. „Ja. Nein. Es geht schon", sage ich, doch meine Stimme klingt tonlos. Aus den Augenwinkeln sehe ich Ethans hochgezogene Augenbrauen.

Die Stunden ziehen sich in die Länge wie Kaugummi und ich kann mich nicht entscheiden, wo ich weniger gerne sein will: in der Schule oder zuhause. Mein Kopf ist so schwer, dass ich ihn kaum stützen kann, erst als ich eine bekannte Stimme vom Gang her meinen Namen rufen höre, wünsche ich mir, doch lieber zuhause zu sein, als hier im Klassenzimmer zu sitzen.

„Chris? Kann ich kurz mit dir reden?" Obwohl es in der Pause immer recht laut hier ist, kann ich Leos Stimme laut und deutlich hören, doch ich reagiere nicht, bewege mich keinen Millimeter und lasse es zu, dass das Feuer mich weiter verschlingt. Ich realisiere gar nicht, dass Ethan von seinem Platz neben mir aufsteht und erst als ich ihn an der Tür sprechen höre, dämmert mir langsam, was gerade passiert.

„Ruhe da draußen. Wir versuchen hier zu lernen", poltert Ethan los, was einige der Mädchen zum Kichern bringt.

„Du bist eindeutig der Lauteste hier", antwortet unsere Klassensprecherin und lacht, als Garrett „Du hast doch noch nie in deinem Leben ein Schulbuch auch nur aufgeschlagen" hinzufügt. Ethan grinst, doch als er merkt, dass Leo keine Anstalten macht zu gehen, verschwindet das verschmitzte Lächeln aus seinem Gesicht.

„Hey, Ethan, könntest du Chris bitte sagen, dass ich mit ihm sprechen will?", versucht Leo es weiter ohne auf Ethans genervten Gesichtsausdruck einzugehen.

„Hab ich gesagt ‚Mülltonne öffne dich', oder warum redest du mit mir?", gibt Ethan verstimmt zurück und mustert Leo abschätzig. Dieser seufzt nur und setzt an, noch etwas zu sagen, wird aber gleich von Ethan unterbrochen. „Du hörst mir jetzt zu. Lass Chris endlich in Ruhe. Du hast hier nichts verloren, kapiert?"

„Ich verstehe dein Problem nicht", erwidert Leo ruhig.

„Mein Problem? Das bist du, mein Lieber." Ethan geht auf Leo zu und drückt diesem den Zeigefinger gegen die Brust. „Hör auf, dich aufzuspielen. Deine Elfmeter sind lachhaft und dass du Chris wie ein hechelnder Hund hinterherläufst, ist erbärmlich."

Das erste Mal seit Beginn des Gespräches hebe ich den Kopf richtig und beobachte die zwei Jungs, die nun beide ziemlich genervt wirken.

„Kannst du dein überflüssiges Macker-Gehabe nicht woanders ausleben? Was geht es dich überhaupt an, mit wem Chris redet?"

„Was sagst du?" Ethan baut sich weiter vor Leo auf, der jedoch keinen Zentimeter zurückweicht.

„Wer verbietet mir denn, hier zu sein und zu reden mit wem ich reden will?"

„Ich. Spiel deine dreckigen Spielchen woanders, Grasfresser!"

„Dreckige Spielchen?" Leo runzelt die Stirn.

In diesem Moment stehe ich ruckartig von meinem Stuhl auf und bringe somit alle Anwesenden zum Verstummen. Mit ein paar schnellen Schritten habe ich Ethan und Leo erreicht und wappne mich für die letzte Schlacht.

Als ich vor den beiden zum Stehen komme, atme ich einmal tief ein, hebe mechanisch meinen Kopf und sehe Leo an. Sein Funkeln trifft auf meine Kälte, sein fragender Blick prallt an meiner Eiswand ab, seine Hoffnung wird von meiner Dunkelheit verschluckt. Plötzlich ist er still, seine Entschlossenheit gerät ins Wanken und ich sehe für einen kurzen Augenblick die verschiedensten Emotionen in seinen Augen aufblitzen.

„Hey, Chris, hast du kurz Zeit?" Sein Lächeln ist vorsichtig, doch wider erwarten löst es nur wenig in mir aus.

Wer die Maske abnimmt, verliert.

„Verzieh dich. Lass mich in Ruhe." Meine Worte sind kalt und scharf wie ein Messer. Langsam schwindet das Lächeln auf Leos Lippen und macht einem Ausdruck Platz, der weder freudig noch traurig wirkt.

Das ist sie. Leos Maske.

„Meinst du das ernst?" Die Beschwingtheit ist aus seiner Stimme verschwunden und er mustert mich mit diesem seltsamen Blick. Da sind so viele Dinge, die er aussprechen will, so vieles, das er sagen will und das er mich nun alleine mit seinen Augen zu fragen scheint. Er könnte mich hier und jetzt bloßstellen, doch er tut es nicht. Und obwohl ihm ein Teil von mir das alles hoch anrechnet, wird diese Dankbarkeit immer weiter von den Ascheflocken bedeckt, bis sie vollständig darunter begraben ist.

„Keiner will dich hier." Meine eigenen Worte fressen sich wie Feuer in meinen Körper, der lichterloh in Flammen steht, als wäre er aus morschem, vertrocknetem Holz.

Leos Blick wird intensiver, doch mein eigener Blick bleibt eine undurchdringbare Eiswand, die die Aschewüste und das Flammenmeer dahinter verbirgt.

Die Zeit der Fehler ist vorbei. Wer verliert, fällt.

Leo sieht mich an und bevor er den Kopf senkt, erhasche ich einen Blick hinter seine Maske. Kurz sieht er wieder auf, sein Blick fällt auf mich und auf Ethan und dann ist der Moment auch schon vorbei und der braunhaarige Junge dreht sich mit einem Pokerface um und geht den Weg zurück, den er gekommen ist.

„Hast du sein Gesicht gesehen?" Ich zucke kaum merklich zusammen, als mich Ethans Lachen in die Realität zurückbefördert. „Wie ihm das Grinsen verrutscht ist? Du hast es ihm echt gegeben, Chris."

Ja, ich habe Leos Gesicht gesehen, das Gesicht hinter der Maske. Und wenn ich daran denke, fällt es mir plötzlich schwer, die Tränen zurückzuhalten. Ich hätte nicht gedacht, dass der heutige Tag noch schlimmer werden kann als der gestrige.

Falling for You ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt