2 Elias

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Er schmiss die Haustür hinter sich zu und warf seine Jacke über den Jackenständer. Es war halb zwei in der Nacht, eigentlich wollte er niemanden wecken, aber er war so aufgeladen, dass er sich nicht zurückhalten konnte. Er lief um die Ecke und entdeckte Licht in der Küche brennen. Ohne zu schauen, wer in der Küche war, lief er an den Kühlschrank und riss die Tür auf. "Wie war die Party? Du bist früh daheim." Als er sich umdrehte, entdeckte er seine Schwester am Esstisch sitzen. Sie saß in ihrem Schlafanzug da, trübselig, niedergeschlagen und aß ein Stück Torte. Als sie zu ihm aufsah und ihn musterte, entwich ihr ein Seufzen.
"Scheint ja keine tolle Party gew-" "Sie war da."
Ihre Augen wurden schlagartig größer und sie legte vorsichtig die Gabel auf den Teller. In ihm spielte alles verrückt, es war eine Mischung aus Wut und Trauer, Freude und Panik. "Adalia, Beth war da." In seinen Augen sammelten sich die Tränen und er machte die Kühlschranktür wieder zu. Seine Fingerspitzen kribbelten als wären sie taub, seine Sicht was trüb. Er lief um die Kücheninsel, schob einen Stuhl zurück und setzte sich neben seine Schwester, welche nach seiner Hand griff und diese beruhigend drückte. Sie wusste, wie sehr ihn das mitnahm, damit hatte er nie abgeschlossen. Er selbst war der festen Überzeugung, dass er sie vergessen hatte, dass das Thema gegessen war. Das war eine Lüge. Natürlich hatte er nicht damit abgeschlossen, nur weil er sich mit anderen Mädchen ablenkte, war sie nicht gleich vergessen. Aber dass es ihm so umhauen würde, sie zu sehen -das hätte er nicht gedacht. Er musterte seine Schwester, sie sah nicht gut aus. Müde, rote Augen, ihre dunklen Haare standen wüst von ihrem Kopf und ihre Brillengläser neben dem Teller waren mit Tränen bedeckt.

"Und wieso sitzt du hier?" Er drückte ihre Hand leicht um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Sie lachte spöttisch auf und sah auf die Uhr. "Ihr Männer seid schrecklich. Ich wünschte, ich wäre lesbisch." Ein Lächeln huschte über seine Lippen, er zog den Teller mit dem Stück Torte zu sich und aß ein Stück davon. „Das sind wir, ja."
So gerne er auch mit seiner Schwester über ihre Probleme geredet hätte, seine Gedanken kreisten nur um Beth. Er konnte sich nicht auf Adalia konzentrieren und eine halbherzige Konversation hatte sie nicht verdient.
Beth war wieder hier, warum?
Seit vier Jahren war sie weg, Kenneth erzählte einmal etwas von einem Studiengang in Norwegen, doch sonst wurde nie viel über sie erzählt. Nicht, weil sie irrelevant war, im Gegenteil. Sie war so wichtig und relevant für ihn, dass es ihn nur noch mehr zerstört hätte zu hören, dass sie in Norwegen glücklich gewesen wäre. Ohne ihn. Sie hatte ihre Familie nie besucht, sie war wie vom Erdboden verschluckt. Er wollte nicht nachfragen wie es ihr ging, er wollte in dem Glauben leben, sie sei für immer weg und ihre Wege würden sich nie wieder kreuzen. Beide glücklicher als damals und so unterschiedlich, dass sie nicht einmal mehr zusammenpassen würden.

"Habt ihr miteinander gesprochen?" Sie zog den Teller wieder zu sich, ihm entwich ein Seufzer. "Nein." Er hatte sich nicht getraut. So gerne hätte er sich mit ihr unterhalten, stattdessen hatte er gemacht, was er am besten konnte:
Mit fremden Mädchen flirten. Doch seine Aufmerksamkeit lag nur auf ihr, ihre Blicke trafen sich immer wieder. Während er eine Andere küsste, dachte er an sie. Während seine Freunde die Mädchen musterten, suchten seine Augen nur sie. Er liebte sie nicht mehr, darüber war er sich sicher.
Doch er wollte sie kennenlernen, wissen, ob es ihr gut ging, ob sie glücklich war und wieso sie hier war. Sie schien so glücklich, so stark und selbstbewusst auf der Party.
Er hatte ihr Lächeln vermisst, die Grübchen wenn sie lachte, ihre vollen Lippen. Sie war darüber hinweg, sie strahlte diese Stärke aus, die ihn faszinierte, die ihn schon immer fasziniert hatte. "Wie hat sie auf dich reagiert?" Er lachte auf. "Sie wirkte nicht so sonderlich begeistert." Adalia lachte auf und aß das letzte Stück der Torte.
Sie bewunderte Beth, die beiden hatten sich so lieb gewonnen, als er sie miteinander bekannt machte. Selbst, als er Geschichte für Beth war -seine Schwestern blieben wichtige Personen für sie. Sie verloren den Kontakt nie vollständig zu ihr, selbst als sie in Norwegen war. "Wusstest du, dass sie hier ist?" Es wäre nicht abwegig, dass sie davon wusste. Adalia schüttelte den Kopf. "Nein, aber das ist doch schön. Dann kann ich sie besuchen kommen." Ihr Handy vibrierte, doch sie ignorierte es. "Ist sie noch auf der Party?" Er zuckte mit den Schultern, er wusste es nicht. Das letzte Mal entdeckte er sie, als er aus dem Schlafzimmer kam. Sie stand mit einem Mädchen in der Küche und unterhielt sich. Als das andere Mädchen ihn entdeckte, wisperte sie Beth etwas ins Ohr. Als diese ihn entdeckte, durchfuhr ihn ein Schauer -sie schenkte ihm einen Blick, den er nicht deuten konnte. Ein wenig enttäuscht vielleicht, entsetzt und trotzdem, als hätte sie nichts anderes erwartet. Und er schämte sich dafür. Denn sie hatte Recht mit ihrem Blick. Man konnte nichts anderes erwarten. Danach war er gegangen. Nicht einmal ein Lächeln konnte er ihr schenken, so verdutzt über ihre Anwesenheit war er. Noch nie hatte man ihm so die Sprache verschlagen.

"Und jetzt?" Er sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu seiner Schwester. Ihre dunkelbraunen Haare hingen ihr über die Schulter, sie sah müde aus, blass. "Wirst du die Begegnung vergessen oder willst du sie nochmal sehen?" Darüber hatte er nicht nachgedacht, darüber wollte er nicht nachdenken.
Er würde sie gerne wiedersehen, doch wie? Sie war ihm so fremd geworden. Er war sich sicher, er konnte sie nicht einfach so anschreiben. Er hatte nicht einmal ihre Nummer oder Ähnliches. Hatte sie Social Media? Er zuckte mit den Schultern und stand auf. "Wir werden sehen, wie es sich entwickelt." Sein Versuch cool zu bleiben war ziemlich kläglich. Er konnte seiner Schwester nichts vorspielen, dafür kannte sie ihn zu gut. Auch sie stand auf, trug den Teller in die Küche und seufzte leise. Er lehnte an der Kücheninsel und beobachtete sie. Eigentlich war sie ziemlich taff, doch davon war aktuell nicht viel übrig. Es war merkwürdig zu sehen, dass seine große, starke Schwester so kämpfte. Sie klappte die Spülmaschine zu, lehnte sich zu ihm und sah in mit einem schwachen Lächeln an. "Du willst sie wiedersehen, Elias." Er schnappte leise nach Luft, doch da platzte es aus ihm heraus: „Ja, das will ich."

(Picture: Elias Murray)

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