»War schließlich nur ein Ausrutscher.«

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»Bringst du das Tablett mit den Schüsseln bitte noch raus?«, rief mein Vater mir zu, als ich den Salat fertig geschnippelt hatte. 
»Ja.«, gab ich murrend zurück, schnappte mir das große Tablett und balancierte es aus der Küche in den Essenssaal. Die Spieler waren vom Training zurück und das Abendessen stand an, weswegen der ganze kleine Saal mit Stimmengewühl gefüllt wurde.
»Basti!«, stach die Stimme von Thomas heraus, als sich alle beruhigt hatten. Ich zuckte zusammen und vergaß das Tablett in meinen Händen, meine Arme fühlten sich urplötzlich butterweich an und gaben nach. Das Tablett kippte vorne rüber, die Schalen rutschten über die Kante und zersprangen vor mir auf dem Fliesenboden. 
»Fuck!«, fluchte ich und hockte mich sofort auf den Boden, um die Scherben einzusammeln. Meine Wangen färbten sich augenblicklich puterrot und ich schämte mich ungemein für mein Fauxpas. Ich spürte, dass die Blicke der Spieler, Trainer, Ärzte und Physios auf mir lagen, was die gesamte Situation nur noch schlimmer machte. 
»Warte, ich helfe dir.«, drang die Stimme von dem Mann in mein Ohr, der mir am gestrigen Abend noch die Lippen auf die Haut gedrückt hatte und an diesem Morgen nicht einmal am Strand war. Ich war irgendwie enttäuscht und war durcheinander, wusste nicht, wie ich all das deuten sollte und konnte nicht einen klaren Gedanken fassen. 
»Geht schon.«, winkte ich ab und griff grob in eine große Scherbe. »Scheiße.«, fluchte ich ein weiteres Mal, als es anfing zu brennen und mein Finger zu bluten begann. 
»Geh und verbinde deinen Finger, ich mach das schon.«, sagte Basti und berührte für einen kurzen Moment mein Handgelenk. 
Ich schüttelte nur energisch den Kopf. »Nein, du bist dafür schließlich nicht zuständig.«, schnell räumte ich die nächsten großen Scherben auf das Tablett, hinterließ zwei Tropfen Blut auf dem hellen Fußboden und ging mit pochendem Finger und dem Tablett in den Händen zurück in die Küche. 
»Ich brauch ein Pflaster.«, rief ich durch die Küche. 
»Sag nicht, dass das die Schüsseln waren.«, kam mein Vater angerannt und schlug sich fast die Hände über dem Kopf zusammen. »Du stehst den ganzen Tag schon völlig neben dir! Hier, nimm die und ab mit dir zum Strand den Kopf frei kriegen.«
Seufzend nahm ich die Packung Pflaster von meinem Vater, wickelte mir ein großes davon um meinen Zeigefinger, hielt die Hand leicht hoch und band mir meine weiße Schürze ab. »Danke, Paps.«
Er drückte mir einen Kuss auf die Wange und schon lief ich aus der Küche. Ich sah, wie eine Art Hausmeister die restlichen Scherben aufkehrte und die Spieler gerade dabei waren, sich über das Essen herzumachen. Ich war froh, dass die Blicke nicht wieder auf mir klebte, während ich mit stur geradeaus gerichtetem Kopf aus dem Haus ging und den Pfad hinunter zum Meer lief. Der private abgesperrte Strand war menschenleer und ich umso erleichterter, dass ich wirklich meinen Kopf frei bekommen konnte. 
Langsam zog ich mir meine Schuhe aus, um meinen pochenden Finger nicht noch mehr zu belasten, und ging vor zum Wasser. Ich setzte mich so, dass ich zwar im trockenen saß, meine Füße jedoch bei jeder Welle in das kühle Nass getaucht wurden. Es tat gut, das Wasser an den Füßen und Fußknöcheln zu spüren, und die pure Freiheit um mich herum zu fühlen. Was störten waren die Gedanken, die in meinem Kopf umher rannten und mir seit gestern keine ruhige Minute mehr ließen. 
Nachdem Thomas mit dem Bier ins Zimmer gekommen war, saßen wir knapp zwei Stunden zusammen und unterhielten uns. Die Jungs redeten viel über Fußball, ich brachte zwischendurch lediglich ein Lachen oder einen komischen Kommentar bei und wusste endlich, was es hieß, wenn die Zeit nicht vorbeiging. Ich fühlte mich fast gefangen – gefangen in meinem eigenen Zimmer. Basti sah mich nicht ein einziges Mal mehr an und auch Thomas schien nach und nach mitzubekommen, dass die Stimmung drückend war. 
»Ich muss schlafen, ich bin total platt.«, hatte ich irgendwann gesagt und die beiden Jungs kurzerhand aus dem Zimmer geworfen. Basti schien erleichtert, Thomas gab keinen Kommentar dazu ab und verließ ohne zu mucksen das Zimmer. Als die Tür hinter den beiden ins Schloss gefallen war, riss ich vor Wut und Verzweiflung die Bettdecke von meinem Bett und warf meine Kissen quer durch das Zimmer. Ich brauchte irgendetwas, an dem ich mich abreagieren konnte. Ich fühlte mich beschissen und verstand die Welt nicht mehr. Warum redete er so gefühlvoll mit Sarah, wenn er im nächsten Moment schon in meinem Zimmer stand, mich küssend gegen die Wand drückte und auf mein Bett warf? Und wieso würdigte er mir keines Blickes, sobald jemand dabei war? Warum behandelte er mich, als wäre nichts passiert? Und viel schlimmer noch – warum ignorierte er mich? Und wieso verdammt nochmal tat er heute, als hätte es den Tag gestern allgemein gar nicht gegeben? 
Die Sache mit Felix hatte mich schon viel zu sehr aus dem Konzept gebracht und Basti setzte mit seinem Handeln noch einen oben drauf. Er betrog seine Freundin, indem er mich küsste und wusste, dass es mir wegen Felix schlecht ging. Er wusste, dass ich selbst nicht sicher war, wo mir der Kopf stand, hatte mich noch getröstet, und verschlimmerte all das trotzdem noch weiter. Was wollte er von mir? Was wollte er damit erreichen?
Ich spürte, wie mir langsam aber sicher Tränen in die Augen stiegen. Mein Finger pochte, die Gedanken hörten nicht auf und ich versank allmählich in Selbstmitleid. In diesem Moment hätte ich einfach nur nach Hause in mein Bett gewollt. 
»Ich hab gehofft, dass du hier bist.«, für einen kurzen Moment stoppte mein Gedankenwirrwarr und ich sah Basti zum zweiten Mal in den letzten Tagen mit Tränen in den Augen an. 
»Was willst du?«, hauchte ich verletzt und gab mir nicht einmal die Mühe, mir die Tränen aus den Augen zu wischen. Ich ließ sie einfach laufen – er sollte ruhig sehen, in was für eine Lage er mir gebracht hatte.
»Ich will mit dir reden.«, sagte er und führte seine Hand in die Richtung meines Gesichts.
»Dann rede auch nur und lass mich sonst in Ruhe.«, fauchte ich ihn an und entwich ihm mit meinem Gesicht. Ich konnte im Augenwinkel seinen entsetzten Gesichtsausdruck sehen, ließ mich jedoch nicht davon beeindrucken. Ich durfte mich nicht davon beeindrucken lassen.
»Wie geht es dir?«, fing er leiser an als zuvor und zog seine Beine angewinkelt an seinen Körper, um seine Arme auf die Knie zu legen. 
»Mein Finger pocht wie scheiße und mein Kopf ist so durcheinander wie noch nie. Reicht das?«, ich wusste nicht, ob es sein ernst war, mir diese Frage zu stellen, hatte aber ein Nachsehen mit ihm. Wäre ich in seiner Lage, hätte ich womöglich auch nicht gewusst, wie ich anfangen sollte. 
»Ja, ich schätze schon.«, sagte er nur und stoppte seufzend. Wir saßen ein paar Minuten schweigend nebeneinander und die Luft, die sich um uns und vor allem zwischen uns verteilte, schien deutlich an dicke zuzunehmen. Ich hatte das Gefühl zu ersticken und schloss zwischenzeitlich meine Augen, um die Tränen, die mir immer wieder in die Augen schossen, weg zublinzeln. 
»Kannst du mir das mit gestern mal bitte erklären?«, flüsterte ich irgendwann, spielte an meinem Pflaster und drehte meinen Kopf in seine Richtung. 
»Ich... nein, eigentlich kann ich es nicht.«, antwortete er und mir war, als würde er mich veräppeln. 
»Wie?«, perplex sah ich ihn an und war kurz davor, tobend aufzuspringen, um über den gesamten Strand zu brüllen, doch er setzte zum Sprechen an. 
»Ich kann es versuchen.«, beruhigte er mich, als er merkte, dass ich nervöser wurde. »Ich glaube, es war diese Euphorie, die in mir gesteckt hat. Ich war so was von glücklich und überwältigt von meinen eigenen Gefühlen, dass ich selbst nicht mehr wusste, wo vorne und hinten ist. Dann ruft Sarah mich an und mir wurde wieder klar, dass sie so weit weg ist und dass ich hier was vermisse.«, er seufzte tief und fuhr sich mit seiner Hand durch sein Gesicht. 
»Das heißt, dass jeder Spieler, der seine Freundin nicht dabei hat, sich bei jedem Sieg eine andere schnappt?«, lachte ich fassungslos auf. 
»Lass mich halt ausreden... «, stoppte er mich. »Meine Gefühle sind mit mir durchgegangen. Ich wollte die ganze Zeit schon meine Umarmung von dir, die du mir versprochen hast, wenn wir mit einem Sieg zurück ins Camp kommen und jedes Mal ist was dazwischenkommen. Erst dein Dad, dann Oli, dann Sarah... und als du dann einfach abgehauen bist, da... ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber irgendwie... irgendwie kamen sich die Sehnsucht nach dem, was Sarah mir sonst immer gibt und das Verlangen nach dieser Umarmung von dir in die Quere und ich war völlig weggetreten. Und hab dich geküsst.«
»Basti, du hast deine Freundin betrogen und wenn Thomas nicht reingekommen wäre, hätten wir wahrscheinlich sogar miteinander geschlafen! Das kannst du doch nicht einfach so erklären und entschuldigen.«
»Ich will das auch keinesfalls entschuldigen und weiß auch, dass es falsch von mir war, aber... mein Gott, in diesem Moment hast du mich einfach so sehr angezogen, da konnte ich kaum was gegen machen.«, er sah mich mit seinen treuen Augen an und mein Herz wurde urplötzlich warm. »Aber das geht alles nicht. Ich bin seit sieben Jahren mit Sarah zusammen, du hast dich grad von Felix getrennt... wahrscheinlich wurden wir beide von der Situation hier in Brasilien ohne Partner einfach überrumpelt. In unseren Situationen können die Gefühle halt schon mal durchdrehen.«
»Ausrutscher?«, fragte ich nur und spürte, wie mein warmes Herz urplötzlich so kalt wurde, dass ich Mühe hatte, es noch zu spüren. 
»Ja, es war einfach nur ein Ausrutscher.«, lachte Basti auf. »Wir vergessen das einfach. Ich mein, wir verstehen uns die ganze Zeit so super, da wird so was Blödes vom Vorabend ja wohl nicht alles kaputt machen.«
Ich fragte mich, was es kaputtmachen sollte, wenn da eigentlich kaum was war. Ich konnte meine Hand dafür ins Feuer legen, dass der Kontakt abbrechen würde, sobald wir in Deutschland waren und gerade dieses Gefühl verriet mir, dass es nichts Großartiges zwischen uns gab, das kaputt gemacht werden konnte. 
»Und du hast heute wahrscheinlich auch nicht mit mir gesprochen, weil es dir unangenehm war wegen gestern?«, fragte ich weiter und überging seine Aussage absichtlich. Ich wollte nicht weiter auf dem Ausrutscher herumreiten, den ich in diesem Moment irgendwie immer noch nicht unbedingt bereute. Ich hatte mich in dem Moment unglaublich gut gefühlt und auch wenn ich mich jetzt benutzt und verletzt fühlte, nahm ich das gerne dafür in Kauf. Irgendetwas hatte sich trotz dessen, dass Basti seine Freundin betrogen hatte, für mich richtig angefühlt. Wahrscheinlich war ich egoistisch, aber es tat gut, das nach etlichen Jahren im gesunden Maße mal wieder zu sein. Eine Seite, die ich lange an mir vermisst hatte – auch wenn sie manchmal Nachteile mit sich brachte. Ich wusste, dass ich solange egoistisch war, wie es erlaubt war. Ich war egoistisch gegenüber Menschen, die ich nicht kannte. 
»Ja, genau. Es war einfach so verzwickt nachdem Thomas rein geplatzt ist.«, lachte er und nahm das alles auf die leichte Schulter. Irgendwie war ich verwundert darüber, aber irgendwie verstand ich ihn. Er befand sich in einer Situation, in der ich niemals hätte stecken wollen, und die ihn wahrscheinlich in dieses Verhaltensmuster trieb.
»Willst du es Sarah sagen?«, wurde ich ernst und kippte die Stimmung. 
»Nein.«, kam es direkt von ihm, ohne dass er überlegen musste. »War schließlich nur ein Ausrutscher.«
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er auf diesem einen Wort, dieser einen Bedeutung so sehr drauf rum stocherte, dass es ihm von Mal zu Mal immer schwerer über die Zunge glitt. 
»Stimmt. Ein Ausrutscher.«, wiederholte ich es auch noch mal und spürte, wie weh es tat. Warum es wehtat, wusste ich nicht. Vielleicht, weil mir das klarmachte, dass ich einfach nichts Besonderes für ihn war. 
»Ich muss wieder hoch zu den Jungs.«, lächelte er mich dann an und stand auf. »Bis dann, Liv.«
»Bis dann.«, sagte ich nur, als er sich umdrehte und zurück zum Camp-Eingang joggte. Ich sah ihm so lange nach, bis er nicht mehr zu sehen war und die ganze Zeit hoffte ich, dass er sich noch einmal umdrehte. Ein einziges Mal, ein kleiner Blick, doch nichts passierte. Er lief einfach weiter und verschwand im Camp, während mir vereinzelt Tränen über die Wangen liefen. 
Es hatte sich was geändert, auch wenn es keiner ausgesprochen hatte. Meine Gefühle hatten sich verändert, nur wusste ich nicht wohin, und die Beziehung zwischen uns hatte sich verändert. Keiner hatte es ausgesprochen, aber wir spürten beide, dass es zwischen uns stand. Dass diese Zärtlichkeiten und Küsse, die wir miteinander ausgetauscht hatten, es nicht zuließen, eine normale Freundschaft zu führen. Wir hatten ein Geheimnis, das auf kurz oder lang alles verändern würde. 
»Ach Livi.«, hörte ich auf einmal die starke und mitfühlende Stimme meines Vaters und den dazugehörigen warmen Arm, der sich um meine Schulter legte. »Da hat sich aber wer ungewollt verknallt, hm?«
Ich konnte nichts auf seine Worte sagen, sackte nur weiter zusammen und ließ mich laut weinend auf seinen Schoß ziehen. Beschützend legte er beide Arme um mich und hielt mich so fest, dass selbst die Tatsache, die gerade über seine Lippen gekommen waren, nicht so schlimm war, wie ich vermutet hatte. Ja, ich hatte mich wahrscheinlich Hals über Kopf nach dem ersten Kuss in die Nummer sieben der deutschen Nationalmannschaft verknallt. 

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