»Liv, ich vermisse dich.«

419 19 0
                                    

Ein ohrenbetäubender Lärm riss mich aus meinem Schlaf. Erschrocken setzte ich mich nahezu hellwach in meinem Bett auf und griff nach meinem Smartphone, welches neben mir auf dem Nachttisch lag. 
»Ja?«, krächzte ich und räusperte mich kurz darauf, um den Frosch in meinem Hals loszuwerden. Ich hatte mich kaum daran erinnern können, einen solch schrecklichen Klingelton eingestellt zu haben und beschloss innerhalb weniger Sekunden, ihn gleich nach dem kommenden Gespräch zu ändern. 
»Liv!«, ertönte eine lallende Stimme am anderen Ende der Leitung. »Schatz, es tut so gut, deine Stimme zu hören.«
Der letzte Rest Müdigkeit und Schlaftrunkenheit wich aus meinem Körper, meine Augen waren weit aufgerissen und das Blut in meinen Adern schien für einen Moment zu gefrieren während mein Herz stehen blieb. 
»Warum rufst du mich an?«, brachte ich nur heraus und pellte mich aus meinem Bettlaken. Hilfslos stand ich im Zimmer und wusste nicht, was die kommenden Minuten auf mich zukamen. Ich wusste gar nicht, was mit mir geschah. Es war so unerwartet wie Schnee in Brasilien, wie reges Treiben um diese Uhrzeit im Camp oder ein vorzeitiges WM-Aus. 
»Liv, ich vermisse dich.«
»Felix, du bist betrunken.«
Ich hätte auflegen können, doch meine Hand bewegte sich mit meinem Handy kein Stück von meinem Ohr weg. Mein Herz klopfte wie wild und ich wusste es nicht zu deuten. War es der Schreck, so urplötzlich aus dem Schlaf gerissen worden zu sein? War es der Schreck, weil mein Ex-Freund am anderen Ende der Leitung war? Oder war es die Sehnsucht nach seiner Stimme und das Gefühl endlich wieder ein Stück Heimat zu spüren und Gewohntes wahrzunehmen?
»Ich weiß, aber... «
»Felix, hier ist es gerade mal fünf Uhr morgens. Wieso rufst du mich verdammt nochmal an?«
»Ich bin von der Party abgehauen und... und ich musste deine Stimme hören.«, es war mir, als würde seine Stimme brüchig werden und für einen Moment tat es mir leid, dass ich ihn so angefahren hatte. Schließlich war ich oft diejenige gewesen, die Felix betrunken geschrieben oder angerufen hatte, wenn man im Streit auseinandergegangen war. Dieses Mal war er es aber, der sich meldete, obwohl ich ihm womöglich urplötzlich das Herz gebrochen hatte. 
Ich seufzte laut. »Ich wollte eine Pause, solange ich weg bin.«
»Ich weiß doch, Schatz.«, eine Gänsehaut überzog meinen Körper, als er diesen Kosenamen aussprach. Er hatte mich immer so genannt, mit der Begründung, dass ich sein wertvollster Fund war, den er je hätte finden können. Er hatte mich selbst dann so genannt, wenn ich tobend und wütend war und wahrscheinlich hatte mich gerade das immer an ihm imponiert. Dieses Bodenständige und Überzeugte, wenn es darum ging, mir zu zeigen, was er von mir hielt und was ich für ihn war. Nur tat es das immer noch? Jetzt in diesem Moment?
»Es ist besser, wenn du dich schlafen legst. Wenn du morgen früh aufwachst, darfst du mir gerne eine Mail schreiben, aber tu mir einen Gefallen und... und ruf mich in der Zeit, in der ich weg bin... nicht mehr an, okay?«, seltsamerweise fiel es mir schwer, diese Worte auszusprechen und ich konnte hören, dass Felix sich irgendwo niederließ und sich durch sein Gesicht strich. Seine typische Geste wenn er verzweifelt war, nach- und vor allem etwasaufgab
»Ich will nur, dass du weißt, dass... dass du immer noch das Wertvollste bist für mich, Liv.«, hauchte er ein letztes Mal, bevor die Leitung kurz knackte und ein monotones Tuten zu hören war. Fast fassungslos starrte ich auf meinen Display und ließ mich rücklings zurück auf mein Bett fallen. Ich hatte das Gefühl zu träumen und in nicht mal mehr einer Stunde von meinem Wecker geweckt zu werden. Doch das tat ich nicht. Ich war hellwach, 47 Minuten bevor mein Wecker klingeln würde, und hatte einen Anruf von meinem Ex-Freund bekommen, der jetzt, um 00:13 Uhr, irgendwo in Berlin herumlief und an einer Flasche Bier nippte. Sein Jackett hatte er womöglich ausgezogen und über seine Schulter geworfen, die oberen zwei Hemdknöpfe waren geöffnet und seine langen Haare, die eigentlich zur linken Seite lagen, waren vermutlich so durcheinander, dass ein jemand denken musste, er hätte nicht ein Mal in den Spiegel geschaut. Ich konnte mir Felix bildlich vor meinem inneren Auge vorstellen und für einen Moment zog sich mein Herz so sehr zusammen, dass ich Angst davor hatte, zu weinen und meine Entscheidung zu bereuen. 

»Erde an Liv, Erde an Liv!«
Die Stimme kam immer näher an mein Ohr und es hat wahrscheinlich Sekunden gebraucht, bis ich aus meiner Trance hochgeschreckt war. Ich zuckte so deutlich zusammen, dass der Mann neben mir im Wasser zurückschreckte und ich fast vom Brett fiel. 
»Alles okay?«, fragte Basti und hielt mein Brett fest. Ich hatte Mühe ihn anzusehen, weil ich zu diesem Zeitpunkt in eine ganz andere Welt eingetaucht war. Nachdem Felix mich angerufen hatte, hatte ich mir mein Brett geschnappt und bin zum Strand runter gelaufen. Ich brauchte diese Ruhe, dieses Beruhigende der Wellen, das sich immer auf meine Seele ausgebreitet hatte. Und das jetzt vollkommen verschwunden war. Ich saß seit einer halben Stunde auf meinem Brett im Wasser, sah hinaus in die Ferne und passte meinen Herzschlag dem Rhythmus der Wellen an. 
»Was?«, fragte ich, als ich in seine Augen blickte, die mich verwundert ansahen. 
»Was ist passiert, Liv?«, hakte er noch einmal vorsichtig nach und drehte das Brett so, dass er neben mir stand. Das Wasser ging ihm bis zur Brust und ich konnte an seiner Gänsehaut sehen, dass er fror. Doch das störte mich nicht, weil ich selbst nicht spürte, dass mir kalt war. 
»Komm erst mal raus hier.«, sagte er, als ich mich nicht rührte und ihn einfach weiter verloren ansah. Ich konnte nichts für meine Verschwiegenheit und dafür, dass ich ihn so lang anstarrte, weil ich fast schon in meinen Gedanken gefangen war und ich keinen passenden Ausweg gefunden hatte, um auszubrechen. Ich spürte, wie er mich vom Brett zog und mein Körper all das machte, um mit ihm das Wasser zu verlassen. 
»Hier.«, er flüsterte fast, als er meine Brettfessel abgemacht hatte und mir sein Handtuch um den Körper legte. »Du bist total durchgefroren.«
Ich saß im Sand und starrte noch immer geradeaus aufs Wasser und seine Arme hatten sich um meinen Körper gelegt. Seine Hände rubbelten leicht an meinen Schultern und seine Stimme, die nebenbei belanglose Sachen flüsterte, die mich von meinen eigenen Gedanken ablenken sollte, beruhigte mich urplötzlich so sehr. 
»Ich glaube, ich habe einen riesigen Fehler gemacht.«, hauchte ich irgendwann, als mein Körper wieder von Wärme gefüllt wurde und Bastis Arme noch immer um meinen Oberkörper lagen. Es war, als würden seine Arme, seine Berührungen und seine Nähe der Grund dafür sein, dass ich aus meiner Trance und meinen Gedanken ausbrechen und zurückkehren konnte. Ins Hier und jetzt.
»Was für einen Fehler?«, fragte er vorsichtig und ich spürte, dass sein Blick in meinem Gesicht lag. 
»Ich hab mit Felix Schluss gemacht, bevor ich geflogen bin.«, quetschte ich die Worte durch meine zitternden Lippen. Er wusste nicht, wer Felix war und ich erklärte es ihm auch nicht, weil ich davon ausging, dass er es zusammenreimen konnte.
»Und du bereust es?«, fragte er hilflos. 
»Er hat mich vorhin völlig betrunken angerufen.«, ich spürte, dass mir Tränen in die Augen stiegen und ich konnte nichts dagegen tun, außer dabei zuzusehen, wie das mit mir passierte, vor dem ich vorhin noch so viel Angst hatte. »Er hat gesagt, dass er mich vermisst und... ich dachte eigentlich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, weil ich einfach nicht mehr so glücklich war, wie... wie vor drei Jahren.«, die Tränen liefen lautlos meine Wange hinunter und ich fing an zu schluchzen. Doch ich weinte leise, völlig für mich und nur sichtbar für Basti. 
»Aber dann hast du doch das Richtige getan. Irgendwann muss man eben mit etwas abschließen, wenn es einen nicht mehr vollkommen erfüllt.«, setzte er erneut an. Er war ernst und direkt, was mich dazu verleitete, ihn mit Tränen in den Augen und den salzigen Spuren auf der Wange anzusehen. Ich stand in diesem Moment vollkommen nackt und hilflos vor ihm und offenbarte mich ihm, wie kaum jemandem zuvor. 
»Aber wieso ist es mir irgendwie leicht gefallen, als ich das beendet habe? Ich... ich habe zwar oft an ihn gedacht, gerade wenn ich allein war, aber mir ging es gut. Und jetzt? Jetzt hab ich das Gefühl, es ist über mich zusammengefallen wie ein riesiger Betonklotz.«, Basti verstärkte seinen Griff und zog mich noch ein Stück näher zu sich. Automatisch legte ich meinen Kopf auf seiner Schulter ab und schluchzte und zuckte und fing irgendwann laut an zu weinen. 
»Du hast die Stimme gehört, die du drei Jahre jeden Tag gehört hast. Da ist es doch normal, dass alle Gefühle mit dir durchgehen. Du hast ihn jetzt lange nicht mehr gesprochen und... und dann ist es klar, dass du an die Vergangenheit erinnert wirst und merkst, dass dieses Stück Gewohnheit, mit ihm zu sprechen, eben nicht mehr alltäglich ist.«, versuchte er mich zu beruhigen und strich mir über meinen Arm. Er hatte recht. Ich wurde einfach zurück gerissen in die Vergangenheit. Es war wahrscheinlich auch kindisch, dass ich so außer Kontrolle war und mich selbst nicht mehr wieder erkannte. Es waren normale Gefühle, die jeder durchmachte. Wahrscheinlich befand ich mich in diesem Moment in der Phase des Bewusstseinswerdens. Darüber, dass er eben nicht mehr da war. Und darüber, dass es ganz allein mein Verdienst war. 
»Aber manchmal reicht Gewohnheit eben nicht und... «
»Ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles erzähle.«, fuhr ich hoch und unterbrach ihn. Genauso überraschend wie meine Trance und der darauffolgende Gefühlsausbruch, kam auch dieser Ausbruch der puren Kälte in mir auf. Ich wurde fast gleichgültig und undankbar und befreite mich aus Bastis Armen, um aufzustehen. »Ich geh besser.«
»Aber Liv... «, hörte ich Basti sagen, als ich mein Brett nahm und dabei war, über den Strand zu gehen. »Bleib halt hier!«
Ich spürte, dass er mir hinterher gelaufen kam und beschleunigte meine Schritte. Dass die Wachleute zum Eingang des Camps die ganze Misere mitbekamen, störte mich nicht. Das Durcheinander in mir störte mich viel mehr. 
»Bleib jetzt verdammt noch mal stehen!«, fuhr er mich harsch an. Als ich mich umdrehte und in sein Gesicht sah, sah ich, dass seine Augen vor Zorn fast schon funkelten. »Wieso rennst du jetzt weg? Weil deine ach so coole Seite mit den ganzen konternden Sprüche mal eben kurz gebröckelt ist und du weinend an meiner Schulter gelehnt hast? Weil du Schwäche gezeigt hast und nicht wie sonst die Starke bist, die es mit noch so großen Wellen aufnimmt? Weil du nicht lachend durch den Sand hüpfst und zu jeder Sache was zu sagen hast? Man Liv, jetzt komm mal wieder runter. Du hast mir am zweiten Tag gesagt, dass du auch nur ein Mädel mit Gefühlen bist – also, warum tickst du dann jetzt so aus? Sei vernünftig, leg deinen Stolz, oder was auch immer es ist, ab und komm gefälligst wieder mit, damit wir weiter reden können. Egal, über was.«
Ich konnte Basti nur perplex ansehen, weil ich viel zu überrumpelt davon war, dass er mir all das, was er anscheinend auf dem Herzen hatte, sagte. 
»O-okay.«, flüsterte ich und ging neben ihm her. Fast schon eingeschüchtert setzte ich mich neben ihn, legte mein Brett zurück in den Sand und sah wieder hinaus aufs Meer. »Tut mir leid. Irgendwie... bin ich durcheinander.«
»Du bist eine Frau und bei Frauen gehen das ein oder andere Mal die Gefühle halt durch.«, grinste er mich an und legte seinen Arm zurück auf meine Schulter. 
»Trotzdem ist es nicht gerade fair dir gegenüber. Du gibst dir Mühe und ich heule und tobe wie wild hier rum. Obwohl wir uns kaum kennen.«, schüchtern hob ich meinen Blick und sah ihn an. »Tut mir wirklich leid.«
»Schon okay.«, grinste er und drückte seine Hand an meinem Arm für einen Moment fester zu, um sein Gesagtes zu unterstreichen. »Und weißt du, warum du mir das alles erzählt hast?«
»Warum?«
»Weil man vielleicht gerade mit denen, die man kaum kennt, am besten über so was reden kann. Diejenigen gehen nämlich neutral an so ein Thema ran und versetzen sich in beide Seiten.«, eine Gänsehaut stellte sich auf meinen Armen auf und ich seufzte laut auf.
»Du hast recht.«, lächelte ich ihn dankbar an. Für einen Moment sahen wir uns in die Augen und ich spürte wieder einmal, wie wohl ich mich in seiner Nähe fühlte. Wenn ich daran dachte, dass ich diese Distanz zu den Spielern und somit auch zu ihm bewahren wollte, lief mir fast schon ein Schauer über den Rücken. Viele Spaziergänge, Späße, aber auch Situationen wie diese wären nie da gewesen. Ich hätte sie zwar auch nicht vermissen können, aber vermutlich hätte irgendetwas in der ganzen Zeit hier in Brasilien unglaublich gefehlt und die Zeit, in der ich nicht in der Küche arbeitete, wäre leere Zeit gewesen. 
»Geht es dir denn jetzt besser?«
»Sehr viel besser.«, lächelte ich und sah ihm weiter in die Augen. 
»Das freut mich.«, lächelte er zurück. Sein Lächeln war echt und so voll Ehrlichkeit, dass mich die nächste Gänsehaut einholte.

Another loveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt