»Melone, Trauben, Brot und Käse?«

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Die Tage bis zum Ende der Gruppenphase waren kaum erwähnenswert. Nach dem Gespräch mit meinem Vater am Strand ging es mir zwar immer noch nicht besser und meine Gefühle waren nicht geordneter als vorher, doch ich fühlte mich irgendwie leichter. Ich glaubte, dass geteiltes Leid halbes Leid war und merkte, dass ich einfach nur über das, was in meinem Kopf vorging, reden musste, damit es mir irgendwie leichter fiel damit umzugehen. Papa und ich trafen uns jeden Abend um Punkt neun Uhr vor seiner Hütte im Camp, gingen Spazieren, setzten uns zu einigen Spielern, um ein Spiel zu gucken, fuhren in die Stadt oder gingen an den Strand, damit er mich beim Surfen anfeuern konnte. Die Zeit, die ich mit meinem Vater verbrachte, genoss ich in und außerhalb der Küche ungemein. In der Zeit waren wir womöglich noch mehr zusammengewachsen als zuvor. 
Die Sache mit Basti stellte sich jedoch als schwieriger heraus. Unser Ritual am Morgen, das wir nach Anfangsschwierigkeiten doch aufgenommen hatten, verging mit den Tagen nach dem Kuss. Jedes Mal wenn ich um sechs Uhr morgens am Strand saß, kam er mit Thomas vorbei gejoggt, hob zur Begrüßung lediglich schnell die Hand und lächelte matt, um kurz darauf im Camp zu verschwinden. Wenn wir uns über den Weg liefen, unterhielten wir uns oberflächlich und all die Gespräche, die wir in den ersten Tagen in Brasilien geführt hatten, waren wie aufgelöst. Ich spürte von Zeit zu Zeit, dass mir etwas fehlte, das selbst mein Vater mit seiner Anwesenheit und Ablenkung nicht wettmachen konnte. Die Verzweiflung wuchs von Tag zu Tag und auch wenn Basti und ich weniger bis kaum Zeit miteinander verbrachten, spürte ich noch immer das unaufhörliche Schlagen meines Herzens unter meiner Brust. Manchmal kam es mir vor, dass er mich noch mehr lockte, je weiter er weg war. 
Die Sehnsucht nach Deutschland hatte sich zudem kaum verändert. Wenigstens etwas, das gleich und standhaft geblieben war. Zwar vermisste ich meine Mutter und meine Freunde, meinen Kiez und all die Partys, doch ich war nie diejenige gewesen, die Probleme damit hatte, ihr gewohntes Umfeld zu verlassen. Außerdem dachte ich nur an die letzten Monate vor der Abreise, in denen ich nur noch in meinem Zimmer saß und Freunde und Partys kaum mehr eine Bedeutung für mich hatten, weil ich mich so abgeschirmt hatte. Zu Felix hatte ich mehr oder minder E-Mail-Kontakt. Nachdem er mich in der Nacht angerufen hatte, schrieb er mir am Morgen wirklich eine E-Mail. Er entschuldigte sich für sein Verhalten und hoffte, dass er mich nicht zu sehr bedrängt hatte. Eigentlich hatte ich nicht vor ihm zu antworten, doch als ich irgendetwas brauchte, um mich abzulenken und irgendwie Anerkennung zu erfahren als die Sache mit Basti vorgefallen war, schrieb ich ihm zurück. Zwischenzeitlich puschten mich all die umgarnenden Worte von Felix unheimlich auf, doch mir wurde klar, dass ich mit Felix im Bezug auf Beziehung und Liebe nicht mehr viel anfangen konnte. Ich mochte ihn gerne und er war mir noch immer unheimlich wichtig, aber da ich wusste, dass wir beide nie eine Freundschaft führen konnten, stellte ich mich nach einem kleinen Höhenflug darauf ein, dass der Kontakt irgendwann von selber auseinanderbrechen würde. Es war gut, dass ich in Brasilien und nicht in Deutschland war und mich besser damit abfinden konnte, dass ein großer Teil aus den letzten drei Jahren nun nicht mehr zu meinem Alltag gehörte. Wo ich am Anfang nach seinem Telefonat noch so sehr darunter gelitten hatte, fand ich mich mittlerweile immer mehr damit ab.
Heute fand das letzte Spiel der Gruppenphase gegen die USA statt. Deutschland hatte 1:0 gewonnen, Thomas schoss in der 55. Minute das Tor und Basti... Basti ist in der 76. Minute vom Feld gegangen. Ich konnte das ganze Spiel zwar nicht so bewerten, aber soviel ich aus Papas Kommentaren heraushören konnte, war es nicht unbedingt das beste Spiel der Mannschaft. Doch trotzdem gingen sie mit sieben Punkten und als Gruppenerste aus der Phase und qualifizierten sich für das Achtelfinale. 
»Wollen wir später wieder runter zum Strand?«, rief ich meinem Vater zu, als ich meine Schürze abband und sie in den Schrank legte. 
»Ich schau mal, was Jogi für die Mannschaft organisiert hat, okay?«, sagte er und kam auf mich zu. Ich wusste, dass ich den Abend heute womöglich alleine verbringen musste. Mein Vater würde sicherlich mit dem Team zusammensitzen und den ganzen Abend in Bastis Nähe zu sein und in sein Gesicht zu blicken, das mir wahrscheinlich wieder kaum mehr Beachtung schenkte als nötig, wollte ich nicht. 
»Alles klar. Ich geh ein bisschen runter zum Strand eine Runde surfen. Kommst du soweit klar?«
»Klar, das Essen steht bereit und die trudeln gleich ein. Geh schon!«, mein Vater drückte mir einen Kuss auf die Wange und schon stolperte ich aus der Küche durch den Essenssaal und hinaus ins Freie. Die warme Luft empfing mich binnen weniger Sekunden und sofort nahm ich die Sonnenbrille, die ich mit einem Bügel in die Hosentasche meiner Hotpan gesteckt hatte, um sie mir auf die Nase zu setzen. Ich konnte die Freiheit förmlich riechen, als ich den kleinen Pfad entlang zum Camp-Ausgang ging. 
»Liv!«, ich zuckte zusammen und drehte mich sofort um. Ich hatte keine Menschenseele weit und breit gesehen, weswegen mich das Team, das gerade angekommen sein musste, umso mehr erschreckte. Es war Basti, der mich rief und der mein Herz einen Moment lang höher schlagen ließ.
»Glückwunsch zum Einzug ins Achtelfinale!«, rief ich zurück und ging auf ihn zu, als er sich in meine Richtung bewegte.
»Dankeschön.«, lächelte er mich unbeholfen an, als wir unsicher voreinander standen. Ich wusste nicht recht, ob ich ihn in den Arm nehmen sollte und zuckte wie wild mit meinen Armen zwischen Umarmung und nicht-Umarmung hin und her. Ich kam mir deppert vor, musste aber lachen, als ich sah, dass es Basti nicht anders ging, und überbrückte die Distanz zwischen uns. Trotzdem vorsichtig legte ich meine Arme um seinen Hals und drückte ihn für einen kurzen Moment an mich. Ich spürte, dass sein Griff für einige Zeit fester wurde und ich genoss diese Geste. Mein Herz klopfte wie wild und urplötzlich wurde mir wieder klar, was ich vermisst hatte: Ihn. 
»Ähm, ich wollte jetzt zum Strand.«, sagte ich, als wir uns gelöst und einfach nur angesehen hatten. »Ich wünsch euch aber viel Spaß beim Feiern.«
»Eh, stopp!«, Basti hielt mich am Handgelenk fest und brachte mich zum Stehenbleiben. »Wir hatten doch was abgemacht.«
Wahrscheinlich hatte ich es die ganze Zeit verdrängt, weil ich damit gerechnet hatte, dass Basti nie wieder auf unsere kleine Abmachung zurückkommen würde, doch als er es war, der mich daran erinnerte, freute ich mich umso mehr. 
»Was meinst du?«, tat ich gespielt unwissend und schob meine Sonnenbrille von der Nase. Ich wollte ihm richtig in die Augen sehen und sehen, was sie aussagten, wenn er mit mir sprach. 
»Wir sind im Achtelfinale. Wir wollten am Strand sitzen, was aus der Küche klauen und... und ich wollte dir von Sarah erzählen.«, ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen und steckte mich für einen Moment lang an. Mich wunderte seine plötzliche Verwandlung, sein Sinneswandel und nahm mir vor, es so schnell wie möglich anzusprechen. 
»Melone, Trauben, Brot und Käse?«, grinste ich ihn an und ging vor zum Essenshaus. 
»Klingt verlockend.«, erwiderte er nur und folgte mir durch den Hintereingang. Ich hatte keine Lust auf Blicke oder Fragen und wusste, dass wir hinten lediglich meinem Vater begegnen konnten, der uns ausquetschen konnte. Und der hatte in den letzten Tagen genug von mir und meinen Gefühlen mitbekommen, als dass er irgendetwas sagen würde. 

»Sollen wir hier bleiben?«, Basti blieb mit dem gefüllten Korb in den Händen stehen und sah sich um. 
»Hier ists perfekt.«, lächelte ich. Wir hatten uns hinter einer kleinen Düne versteckt. Hinter und neben uns wehte leicht hohes Gras, das Meer erstreckte sich wenige Meter vor uns und doch waren wir so weit abgelegen, sodass uns keiner so schnell entdecken konnte. Die Sonne ging gerade unter und ich verspürte eine Gänsehaut, als ich Basti dabei zusah, wie er die große Decke ausbreitete, eine zweite zum Zudecken, falls es sich etwas abkühlen sollte, daneben legte und anfing, die kleinen Snacks auszupacken.
»Da drinnen gibt es dickes Essen und du isst Melonen- und Käsestückchen, Brot und Schokolade.«, lachte ich auf, als ich die Dosen öffnete, die Deckel zurück in den Korb legte und mich im Schneidersitz auf die Decke setzte. 
»Kann auch lecker sein!«, erwiderte er nur und steckte sich provokant ein Stück Melone in den Mund. »Außerdem haben die da drinnen keinen Sekt und... keine Schokolade.«
Ich lachte auf und fischte mir eine Traube aus einer Dose. »Du hast recht. Hoffentlich entscheidet Jogi sich nicht noch für einen Abendspaziergang und überrascht uns beim Sündigen.«
»Der versteht das. Selbst hat er sicher eine Kiste mit Schokolade und Chips unter seinem Bett stehen und sündigt jeden Abend.«, versuchte Basti sich zu verteidigen. 
»Aber er muss auch keine wichtigen Spiele für die Nationalmannschaft spielen.«, versuchte ich die Bedeutung seiner Worte abzuflachen. 
»Aber er muss in der Coachingzone hin und her rennen. Und die akrobatischen Übungen, die er mit seinen Armen vollführt, brauchen auch Training!«, fing er an zu lachen und merkte, dass seine Rechtfertigungen völlig banal waren. Ich wusste nichts darauf zu sagen, lachte einfach mit ihm und spürte, dass wir in ein Schweigen glitten. Wir beide aßen und starrten um die Wette und urplötzlich war diese Stille eingekehrt, die zeigte, dass etwas anders war, als vor dem Kuss und die zeigte, dass wir Redebedarf hatten. 
»Bevor du mir von Sarah erzählst... kann ich dich was fragen?«
Ich brachte die Worte endlich über die Lippen. Es war unmöglich, dass wir wieder in das alte Muster verfielen und diese Sache noch immer zwischen uns stand, obwohl sie doch längst als Ausrutscher abgetan wurde. 
»Du kannst mich alles fragen, Liv.«, gab er den Startschuss frei. 
»Warum hast du plötzlich so einen Sinneswandel?«, sagte ich nur und nahm wieder einmal meine Sonnenbrille von der Nase. Auch Basti setzte seine ab und legte sie neben sich auf die Decke. Das Stück, das er in den Händen hielt, hatte er ebenso auf seinen kleinen Teller vor sich gelegt. Es kam mir vor, als würden es Dinge sein, die er tat, um sich voll und ganz auf das kommende Gespräch vorzubereiten. Und irgendwie machte es mir auf der einen Seite zwar Angst, erleichterte mich auf der anderen aber komischerweise ungemein. 
»Ich fand die Tage ohne Ritual nicht gerade angenehm. Mir hat das morgens, am Abend und vor allem die Gespräche zwischendrin gefehlt.«, gab er zu und sah mich entschuldigend an. 
»Und warum bist du dann nicht früher zu mir gekommen?«
»Weil ich dachte, dass es dir ganz gut geht. Ich hab dich kaum mehr gesehen und morgens wenn ich mit Thomas an dir vorbei gejoggt bin, hat es nicht den Anschein gemacht, als ob die Gesellschaft willst.«, er seufzte einmal kurz auf, so als schien er sich über sich selbst zu ärgern. »Es war einfach so dumm von mir, dass ich das dachte. Ich hatte das Gefühl, dass irgendwas anders ist.«
»Genau das hatte ich auch. Du kamst so abweisend rüber irgendwie, so als hätte ich was falsch gemacht.«, auch ich seufzte einmal unbewusst laut auf und sah ihn an. »Ich will nicht, dass irgendwas zwischen uns steht, weil ich die Zeit und die Gespräche echt genossen habe.«
»Wollen wir uns einfach endlich wieder wie zwei normale Menschen benehmen? Genauso wie vorher? Und dieses Mal wirklich?«
»Ich würde mir nichts sehnlicher wünschen als das, Basti.«, lächelte ich. Mir fiel auf, dass ich ihn das erste Mal in der Zeit mit seinem eigenen Namen ansprach. Ein Strahlen breitete sich auf seinem Gesicht auf. 
»Dann lass uns jetzt essen.«
Mein Herz wurde leicht, das Grinsen wich nicht mehr von meinem Gesicht und im Gegensatz zu den letzten Tagen, in denen ich ihm begegnet war, fühlte ich mich wieder unglaublich wohl in seiner Nähe.

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