»Ich hätte mir gewünscht, dass du meinen Weltmeister-Kuss bekommst.«

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  »Geh nur Daddy, ich mach das!«, rief ich mit einer winkenden Handbewegung meinem Vater hinterher, als ich die Küche verließ und er durch die Hintertür verschwand. Ich wusste nicht genau, was er vorhatte, weil er nur etwas von Geschenk und meiner Mutter gemurmelt hatte, doch die restlichen paar Schüsseln bekam ich selbst in den Geschirrspüler geräumt. Die Küche war soweit fertig aufgeräumt, für das Abendessen war alles vorbereitet und die Ablenkung, die ich durch die Arbeit bekam, tat mir gut. Es war erst gestern, als ich mit Thomas an den Badfliesen gelehnt hatte, weil ich Basti und Sarah zusammen gesehen hatte, und trotzdem kam es mir vor als würde es mich schon tagelang zerfleischen. Ich hatte das Mittagessen gemieden, ich wollte ihr nicht unter die Augen treten und hatte mich in der Küche verschanzt, bis keine Frauenstimme mehr zu hören war. Es war wahrscheinlich kindisch von mir, dass ich mich derart verhielt, aber ich traute mir nicht zu, der Wahrheit und all den Tatsachen, die sich in den letzten Stunden gedreht und gewendet hatten, in die Augen zu blicken.
Die Gedanken aus dem Kopf verdrängend ging ich raus in den Essenssaal und steuerte direkt auf das Buffet zu. Ich sammelte die restlichen Schalen und Schüsseln ein, die letzten Löffel, legte alles auf den Essenswagen, damit ich nicht alles tragen musste, und spürte, dass ich nicht alleine war. Ich spürte eine Anwesenheit im Raum, die mich kurz zusammenzucken ließ. Wie konnte ich so naiv sein und daran denken, dass die Sache für mich gegessen war? Es war klar, dass das Leben nicht so »einfach« war und man sich mit einem Stich ins Herz zufrieden geben konnte. Nein, nach dem Stich musste das Messer noch ausführlich von rechts nach links und von links wieder nach rechts gedreht werden, um den Schmerz auszudehnen. Wir mussten noch in Wochen, gar Monaten daran erinnert werden, dass da mal was war, das.. das wehtat.
»Was willst du hier?«, zischte ich, als ich die letzten Schalen übereinander stellte. Ich brachte es erst nicht über das Herz mich umzudrehen, weil ich nicht in sein Gesicht und in die Augen, die mich so unglaublich angelogen hatten, blicken wollte, und als sekundenlang keine Antwort kam, war ich mir augenblicklich unsicher, ob es wirklich Bastian war, der hinter mir an dem großen Gruppentisch saß.
»Mit dir reden.«, es war Bastians Stimme und für einen Moment hauchte ich erleichtert auf. Wahrscheinlich, weil ich insgeheim Angst hatte, dass Sarah mir gegenübertreten würde und ich Respekt hatte, mich ihr zu stellen. Doch es war Bastian. Nicht unbedingt besser – der Schmerz verbreitete sich trotzdem binnen weniger Sekunden in mir aus und ich stützte mich keuchend auf dem Essenswagen ab, als seine Stimme mein Herz erreicht hatte.
»Es gibt nichts zu reden, Bastian.«, presste ich durch meine halb geschlossenen Lippen und gab mir Mühe die Fassung zu bewahren, als ich mich umdrehte und das erste Mal wieder in seine Augen blickte. Es war wie ein Stromschlag, wie ein Blitz, der durch mich hindurch jagte und mich zusammenzucken ließ. Sein Blick sah fast leer aus, als er mich einfach nur anstarrte und ich seinem Blick nicht standhalten konnte. Sofort drehte ich mich wieder weg, atmete kurz ein und fuhr den Wagen zurück in die Küche, um das Geschirr wegzuräumen. Meine Hände zitterten, mein Herz flimmerte und ich hatte Angst, dass ich das Gefühl für die Realität verlieren würde. Ich hatte Angst, dass ich durchdrehen würde und dass ich meine Gefühle nicht mehr unter Kontrolle halten konnte.
»Liv, gib mir doch wenigstens die Chance dir etwas zu erklären.«, Basti war mir in die Küche gefolgt. Ich stoppte den Wagen vor dem Geschirrspüler und hielt inne. Ich sammelte mich, atmete erneut tief durch und drehte mich um. Ich wollte aus der Küche raus, musste in den großen Essenssaal, damit ich wenigstens das Gefühl hatte, dass ich mich in einem großen Raum befand, der mir mehr Luft brachte, als die kleine Küche. Ich hatte Angst in seiner Gegenwart zu ersticken.
»Es gibt einfach nichts, was du mir erklären kannst. Warum siehst du das nicht ein?«, ich redete ruhig mit ihm, als ich mich mit verschränkten Armen vor der Brust an die Tische des abgedeckten Buffets lehnte. Ich musterte seinen Körper, wie er unruhig auf und ab lief und im nächsten Moment vor mir stehen blieb. Sein Gesicht war gesenkt, sein Blick schien fast leer und bei längerem Hingucken, hatte ich fast das Gefühl, dass ich Tränen in seinen Augen glitzern sehen konnte. Aber es interessierte mich nicht – es sollte mich nicht interessieren!
»Ich sehe es nicht ein, weil es meiner Meinung was zu erklären gibt. Kann ja sein, dass du das jetzt gerade anders siehst, weil du verletzt bist, aber.. aber gib mir wenigstens eine Chance.«, er fing fast an zu betteln und ich lachte fassungslos auf. Ich wusste nicht, was ihn dazu brachte, dass er überhaupt so wenig Respekt hatte, dass er mich jetzt, einen Tag nachdem das alles passiert war, überfiel. Er hatte wahrscheinlich immer noch die Abdrücke von Sarahs Lippen auf den seinen, seine Haut war übersäht von ihren Berührungen und trotzdem besaß er fast schon die Frechheit sich so vor mir zu präsentieren.
»Deine Art grade ekelt mich fast so sehr an wie der Kuss zwischen Sarah und dir gestern. Mich überkommt auch wieder die Übelkeit und ich hoffe, dass du dich gleich umdrehst und gehst, bevor ich am Ende wieder über der Schüssel hänge.«, zischte ich und funkelte ihn an.
»Du wirst unfair und verletzend.«
»Oh Bastian, soll ich jetzt anfangen zu weinen und dir den Kopf tätscheln, weil ich so gemein zu dir bin?«, ich lachte wieder, wurde aber immer aggressiver. Sein Verhalten war respektlos und ich konnte kaum glauben, dass mein Herz zum Takt eines Liebesliedes schlagen konnte, wenn ich ihn ansah. »Ich bin verletzt, du hast mir mein Herz gebrochen, du hast mich gerade so behandelt, wie man niemanden behandeln sollte und verdammt.. wirf mir nicht vor, dass ich grade unfair bin. Fang bei dir selbst an!«
»Ich kann doch aber nichts dafür, dass Sarah einfach her geflogen kommt.«
»Du kannst nichts dafür? Wenn du es nicht gewollt hättest, hättest du ihr das klipp und klar sagen können. Und ich wusste gar nicht, dass man einem Menschen die Lippen aufdrückt, wenn man ihm nicht unbedingt was abgewinnen kann.«, ich drehte mich um und stützte mich auf dem Tisch hinter mir ab. Ich konnte meine Tränen kaum zurückhalten und spürte, dass sie anfingen, über meine Wange zu laufen. »Du widerst mich gerade an. Ich kann dich einfach kaum angucken ohne dass mein Herz ein weiteres Stück mehr kaputtgeht. Ich kann nicht glauben, dass ich dir all das, was du zu mir gesagt hast, geglaubt habe. Du hast mich verarscht, ausgenutzt und hast dir hinter meinem Rücken wahrscheinlich selbst einen High Five gegeben. Dein Herz hat die ganze Zeit Sarah gehört, sonst hättest du dich längst für mich entschieden. Sonst hättest du mir nicht immer nur gesagt, dass du Sarah verlässt, sondern du hättest es getan.. «, ich zuckte und schluchzte, wimmerte und weinte und wusste, dass ich ihm zeigte, wie schwach ich eigentlich war. Ich zeigte ihm, wie verzweifelt, verletzt und letztendlich auch wie unendlich verliebt ich in ihn war.
»Ich wollte das alles machen, wenn wir zurück in Deutschland gewesen wären, Olivia.«, er sprach meinen vollen Namen aus und genau das zeigte mir, dass wir beide auf einer ganz anderen Ebene miteinander sprachen als all die Tage zuvor. Alles war distanzierter und kühler, die Herzen waren angegriffener und gebrochener, andere Menschen standen zwischen uns und drückten uns mit ausgebreiteten Armen auseinander. Wir konnten den anderen gar nicht mehr erreichen, auch wenn wir es wollten.
»Du wolltest so viel, Bastian. Du wolltest alles und hast es doch nicht hinbekommen. Weil dein Herz noch nicht soweit war.«, ich schluchzte und spürte meine nassen Wangen. Es war mir egal, dass er mich so sah. Sollte er es doch, er wusste eh, dass ich verletzt war, und ich konnte mich nicht dagegen wehren.
»Basti? Hallo?«, die Tür zum Essenshaus wurde aufgerissen und die helle sanfte Stimme, die mir für einen Moment komplett den Atem nahm, hellte den Raum auf. Wäre Sarah eine neutrale Person und nicht der Mittelpunkt unseres Problems, hätte man meinen können, dass sie unsere Stimmung hätte aufhellen können. Doch das konnte sie nicht. Im Gegenteil – sie machte alles nur noch viel schlimmer.
»Hm?«, Basti drehte sich leicht zur Tür. Ich folgte seinem Blick und sah, wie diese Schönheit von Model durch den Raum schwebte und ihren Basti breit grinsend ansah. Mir kam sämtliches Essen von sämtlichen Tagen der Woche hoch und ich musste mich zusammenreißen nicht lauthals loszulachen, weil ich diese ganze Situation einfach nur noch fassungslos fand.
»Wo bleibst du denn? Wir wollten doch noch kurz zum Strand.«, sie schmiegte sich an ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Es war Basti unangenehm, dass sie so sehr die Nähe suchte und mich nicht zu bemerken schien, doch auch wenn es mir das Herz zerriss, freute es mich ein wenig, dass Basti die Situation anscheinend quälte. Er drückte sie leicht weg und sah wieder zu mir.
»Ach!«, Sarahs Grinsen wurde hämisch und ich wusste genau, was ihre Augen sprachen. Ich brauchte keine Psychologin oder Spezialist auf dem Gebiet Körpersprache zu sein – ich wusste, dass sie wusste, wer ich war und dass sie mich am liebsten vernichten würde. »Hallo, ich bin Sarah – Bastians Freundin!«
Ihre Stimme triefte fast vor ihrer besitzergreifenden Art und jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ihr Spielchen hatte begonnen, sie wollte mich fertig machen und mir zeigen, wer Bastian haben konnte. Sie wollte einen von diesen Machtkämpfen und Zickenkriegen, doch darauf hatte ich keine Lust, ich hatte nur Lust auf die Wahrheit. Und es war mir so was von egal, ob ich damit eine Grenze überschritt, die ich zuvor nicht zu überschreiten gewagt hatte. Für mich zählte nur noch Wahrheit und auch wenn es etwas kaputtmachen sollte – schlimmer konnte es eh nicht mehr werden.
»Hi, ich bin Liv – für dich auch gerne Olivia.«, ich grinste sie ebenso zuckersüß an, wie sie es tat und freute mich jetzt schon über ihre Reaktion, wenn sie verstand, was hier abging. »Ich bin Bastis Affäre!«
Ich wusste, dass ich mich mit der Bezeichnung »Affäre« unter Sarah stellte und Affären immer etwas Schmutziges und Gefühlsloses darstellten, doch das war mir in diesem Moment so egal. Ich wollte meinen Frust loswerden, noch unfairer sein, und all den Schmerz mit den Menschen teilen, die ihn mir bereitet hatten.
»Tschuldigung?«, Sarah drehte ihren Kopf leicht, ließ ihre Augen aber in meinem Gesicht. Bastis panischer Blick starrte mich an und ich lächelte. Ich lächelte einfach nur und wurde von Sekunde zu Sekunde zufriedener.
»Ach, der Basti hat dir gar nicht erzählt, was für eine schöne Zeit er hier hatte?«, ich tat überrascht und schwächte die Bedeutung und die Gewichtigkeit meines Geständnisses so sehr herunter, dass ich zwischenzeitlich das Gefühl hatte, dass es um eine Nichtigkeit ging. Ich wusste, dass ich immer für Ehrlichkeit und Treue war und dass ich meine jetzige Art nie als die feine englische abgestempelt hatte, aber das war mir gerade egal. Mir war einfach alles egal.
»Was meint sie, Basti?«, Sarahs Blick wurde panischer und ich grinste Basti zufrieden an. Ich wurde zu einem Biest und würde ich in ein paar Tagen auf diesen Moment zurückblieben, würde ich mich verfluchen, das wusste ich. Und trotzdem konnte ich nichts gegen meine momentane Art machen, weil ich keine Kraft hatte, gegen mich und meine verletzten Gefühle anzukämpfen.
»Bastian und ich hatten Sex, wir haben uns geküsst. Dein Freund hat mir jegliche Wünsche von den Lippen abgelesen bevor er sie danach sanft geküsst hat. Er hat Dates und Überraschungen organisiert und mir von all dem erzählt, was ihn bewegt.«, ich seufzte kurz lächelnd, senkte meinen Kopf um ihm im nächsten Moment wieder zu heben. »Dein Freund und ich – wir haben uns gegenseitig bewegt und berührt. Wir haben was füreinander übrig. Wir hatten was füreinander übrig.«
»Ich bin auf deinem Zimmer, falls du mich suchst.«, Sarah sah nur noch Bastian an und ich wusste, dass ich sie vernichtet hatte, ehe sie überhaupt versucht hatte, es mir heim zu zahlen, dass Basti und ich in der Presse ein Thema waren. Wahrscheinlich hatte ich ihr Leben um einiges mehr zerstört, als ich es ganz zu Beginn vorgehabt hatte. Aber manchmal wendete sich das Blatt.
»Olivia«, hauchte Bastian fassungslos. »Du hast gerade mein Leben zerstört.«
»Und du hast mich zerstört.«, gab ich nur knapp zurück. »Willkommen im Club. Wieder was gemeinsam – wie ekelhaft ironisch das Schicksal doch sein kann.«
»Was ist los mit dir? Du bist.. du bist.. ach Gott, ich kann es kaum beschreiben.«
»Ich habe ihr die Wahrheit gesagt. Ich habe ihr das gesagt, was du ihr schon die ganze Zeit sagen solltest. Und wenn du jetzt ihr Herz verlierst, hast du es verdient.«, wieder fing ich an zu weinen und fiel von dem wütenden Trott, dem Trott, dass ich jeden genauso leiden lassen wollte, wie ich gelitten hatte, zurück in die jämmerliche und weinerliche Phase, in der ich die Welt nicht mehr verstand und in der mir einfach alles wehtat. »Du hast mich so belogen, Basti. Du hast mich so ausgenutzt und du hast mir so wehgetan. Ich kann kaum atmen, weil ich das Gefühl habe, dass du mich berührst, obwohl du nicht mal in meiner Nähe bist. Du hast mir jegliches Gefühl und Vertrauen in die Menschen genommen. Eigentlich dachte ich, dass ich die Liebe durch dich neu kennenlerne, aber das hab ich nicht. Ich habe sie so kennengelernt, wie sie nun mal ist – schmerzhaft, unfair, durchtrieben. Und dazu hast du mir noch ein paar andere Seiten der Liebe vorgestellt. Ich bin froh, dass die Zeit vorbei ist und ihr morgen nach Rio abreist, weil ich dann endlich wieder atmen kann.«
ich wanderte rückwärts an die Wand und ließ mich an ihr hinuntergleiten. Ich war urplötzlich so müde und leer, so leer und kaputt, dass ich das Gefühl hatte, all meine übrig gebliebenen Kräfte in die Konversation mit Sarah gesteckt zu haben.
»Ich bin nicht froh, Liv. Ich hätte mir gewünscht, dass du meinen Weltmeister-Kuss bekommst.«
Bastis Stimme klang brüchig als er mich ein letztes Mal ansah und sich zum Gehen umdrehte.
»Geh! Verschwinde! Lass mich in Ruhe und werde glücklich! Ich will dich nie mehr sehen!«
Ich schrie so laut ich kann. Es war mir egal, ob mich wer hörte. Es musste einfach raus. Und auch wenn ich Basti jetzt nicht zum letzten Mal gesehen hatte, weil ich mit Papa am 13.07.2014 in dem großen Stadion in Rio in unmittelbarer Nähe von Sarah stehen würde, wollte ich genau jetzt mit dem Kapitel Brasilien abschließen. Mit Basti, mit der Liebe, mit dem Ritual am Morgen, mit dem Ritual nach jedem Sieg. Heute Abend würde ich meine letzte Welle hier in Brasilien stehen und danach wäre der Epilog geschrieben. Das war Brasilien. Hier war mein gebrochenes Herz.  

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