»Er ist glücklich mit Sarah, hast du gehört, Papa?«

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»Man hat dich gestern den ganzen Tag nicht mehr gesehen. Gab es doch noch Stress wegen dem Foto?«, mein Vater sah mich besorgt an, als er sich neben mich an einen der Stühle im Essensbereich setzte. Alarmiert schaute ich auf und schüttelte fast schon zu wild mit meinem Kopf, als ich mir eine Weintraube in den Mund steckte.
»Nein, alles gut. Basti soll ein Statement abgeben und dann sollte es gegessen sein.«, erklärte ich und sah durch den kleinen Saal. Die Jungs aßen, quasselten aufgeregt durcheinander und Basti und Thomas kabbelten sich um ein letztes Stück Brot, das zwischen ihnen auf einem separaten Teller lag. Augenblicklich und ohne dass ich es eigentlich wollte, musste ich anfangen zu grinsen. Ich hatte das Gefühl, dass ich seit gestern eine Art Krankheit hatte, die es nicht zuließ, meinen Blick von Basti zu nehmen. Schon den ganzen Morgen hielt ich nach ihm Ausschau, nachdem wir um zwanzig nach sechs vom Strand zurück in das Camp kamen und unsere Wege sich vorerst trennten. Nach gestern war alles neu und anders zwischen uns. Wir verhielten uns wie zwei vierzehnjährige, die dem anderen am liebsten jederzeit viel näher wären, sich aber nicht trauten. Wir tauschten verlegene Blicke, grinsten uns an und ich spürte, wie ich jedes Mal aufs Neue rot anlief. Es war mir fast schon peinlich, dass ich mich so albern und kindisch verhielt, und trotzdem fühlte es sich irgendwie aufregend und schön an.
»Liv?«, ich sah die Hand meines Vaters vor meinen Augen hin- und herwinken und schreckte leicht hoch.
»Hm?«, überrascht sah ich ihn an und tat, als hätte er mich keinesfalls in einer unangenehmen Situation erwischt. Wahrscheinlich hatte ich dagesessen wie in einem schlechten High-School-Film aus Amerika, in welchem das schwarze Entlein der Schule in der Mensa saß, ihren Kopf auf dem Kinn abgestützt hatte und absolut auffällig zu ihrem Schwarm und gleichzeitig dem beliebtesten Schüler der High-School hinübersah. Ich spürte, wie rot ich selbst vor meinem Vater wurde und stocherte unsicher eine Tomate auf meine Gabel.
»Ob wir uns später mal treffen, um in Ruhe über die ganze Sache zu reden.«, lachte Papa auf und stand im nächsten Moment schon wieder auf, um sich leicht zu mir hinunter zu beugen. »Ich habe nämlich das Gefühl, dass da dringend mal drüber geredet werden muss!«, flüsterte er und mir legte sich eine Gänsehaut über den Körper. Er war mein Vater, es war fast schon unnötig ihm irgendetwas vorzumachen. Ich nickte nur, sah ihm kurz hinterher als er zurück in die Küche ging und steuerte meinen Blick sofort wieder zu Basti. Ich konnte es einfach nicht lassen.

»Dein Wasser.«, Papa stellte mir ein Glas vor die Nase, als ich meine Sonnenbrille auf die Nase setzte und meine nackten Beine in die Sonne streckte. Auch wenn es erst kurz vor halb elf Uhr war, knallte die Sonne so unglaublich doll, dass ich teilweise das Gefühl hatte, nach fünf Minuten schon vollkommen verbrannt zu sein. Ich verstand nicht, wie die Jungs bei diesem Wetter, bei dieser schwülen Hitze überhaupt einmal über das Feld laufen konnten.
»Danke.«, lächelte ich ihn verlegen an und ließ meinen Blick über den großen Platz vor Papas Hütte schweifen. In nicht allzu weiter Ferne sah ich, wie ein Kamerateam samt Moderatorin hinter einem kleinen Pult standen und irgendetwas besprachen. Das Mikrofon in den Händen der Moderatorin war gelb, bestickt mit drei Buchstaben und sofort war mir klar, dass das das Interview von RTL mit Basti sein musste.
»Er ist gleich dran?«, fragte mein Vater im nächsten Moment auch schon und nickte zu dem Punkt, von dem ich meinen Blick soeben losgerissen hatte.
»Ich weiß es nicht, ich gehe aber mal von aus.«, irgendwie stieg Nervosität in mir auf und ich konnte es kaum verbergen, als ich meinem Vater einen hilflosen Blick zuwarf.
»Gefühle sind manchmal gemein, oder?«, fragte er leise und sah mich mit sorgenvollem Blick an. Er traf es genau auf den Punkt. Das waren sie. Sie waren gemein, weil sie selbst wussten, dass wir Menschen uns nicht gegen sie wehren konnten.
»Ich würde sie am liebsten ausstellen. Das bringt mich bald um den Verstand.«, jaulte ich fast und war froh, dass die dunklen Gläser meiner Sonnenbrille meine glasigen Augen verdeckten. Ich wollte meinem Vater nicht zeigen, wie sehr mich ein Junge nach so kurzer Zeit um den Verstand gebracht hatte. Ich wollte irgendwie stark sein, damit er sich keine Sorgen machen musste. »Wir haben uns gestern geküsst, Papa. Wir lagen ewig einfach nur da, haben uns gehalten und nichts gesagt.«
»Habt ihr mal über euch gesprochen?«, fragte er genau das, das ich die ganze Zeit über meinen Hinterkopf geschoben und verdrängt hatte. Ich wollte dieses euch, dieses uns gar nicht an mich ranlassen. Ich wusste nicht, was das zwischen uns war. Ob wir eine Affäre hatten, eine Beziehung, eine Freundschaft oder einfach nur Bekannte waren. Ich wusste nicht, ob er mich mochte, ob er mich anziehend fand oder aber genauso dabei war, sich in mich zu verlieben, wie ich mich in ihn verliebte. Ich wusste nicht, was die Zukunft bringen würde. Ob ich ihn zum Abschied in Deutschland am Flughafen umarmen und zurück in meinen Kiez fahren würde, um mein tristes Leben weiterzuführen, das mir in diesem Moment noch so ausweglos erschien, oder ob ich jeden Tag seinen Namen auf meinem Display sehen, einen Anruf entgegennehmen und seine Stimme hören durfte. Ich wusste gar nichts und so sehr ich mich auch davor weigerte mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, so sehr machte mich dieses Ungewissheit in diesem Moment so rar.
»Ich weiß gar nichts, Paps. Wirklich absolut nichts. Er soll wahrscheinlich erst mal alles mit Sarah klären, bevor er sich mit mir auseinandersetzt.«, ich seufzte tief und konzentrierte mich immer noch voll und ganz auf meinen Vater. »Ich habe das Gefühl, ich habe bei dem Ganzen nur die Rolle der Affäre, die gerade etwas zerstört.«
»Liv, sag so was nicht.«, mein Vater beugte sich nach vorne und griff nach meiner Hand. »Du hast hier anscheinend ziemlich starke Gefühle für Basti entwickelt. Dass das alles Schlag auf Schlag so kommt und sich so entwickelt – dafür kannst du absolut nichts. Du kannst dich auch nicht gegen das wehren, was dein Herz dir sagt. Und im Endeffekt liegt es bei Basti, was er wie weit zulässt.«
Die Worte meines Vaters beruhigten mich augenblicklich soweit, dass ich das Gefühl hatte, wieder normal atmen zu können. Sie beruhigten mich soweit, dass mein Herzschlag wieder den richtigen Takt annahm und dass die Angst und Verzweiflung, die sich zuvor noch so sehr aufgebäumt hatte, zurückwich. Er war schon immer Balsam für meine Seele.
»Du musst ihm wahrscheinlich aber wirklich erst einmal Zeit lassen. Er muss das Interview führen und wahrscheinlich sollte er sich mit Sarah auseinandersetzen und sehen, in welche Richtung das ganze geht.«
»Ja, ich habe ihm gesagt, dass er ihr alles sagen. Auch, dass wir uns vor Tagen schon mal geküsst haben. Er hat sie schließlich betrogen und die Wahrheit verdient – auch wenn es bei den beiden etwas kriselt. Aber irgendwie... irgendwie drückt er sich davor.«, erklärte ich meinem Vater und nahm den Blick aus seinem Gesicht, um erneut zum Kamerateam zu sehen. Das Stimmengewirr wurde lauter und ich sah, wie Jogi hinter der Kamera stand und Basti sich neben der blonden Moderatorin an dem Pult positionierte.
»Es geht los!«, sagte ich aufgeregt zu meinem Vater und lehnte mich leicht über den Tisch, in der Hoffnung, dass ich jedes Wort aufschnappen konnte. Das Camp schien total ruhig zu sein, als würde jeder auf Basti achten.
»Was natürlich jeden interessiert: Was hat es mit dem Bild auf sich, das seit den frühen Morgenstunden durch das Netz kursiert? Sie mit einer blonden Dame im Arm unter einer Decke am Strand hier im Camp, die eindeutig nicht als Ihre Freundin Sarah zu identifizieren ist.«, sagte die Frau und hielt Basti im nächsten Moment schon das Mikro unter die Nase. Er lachte leicht auf, stützte seine Hände in der Hüfte ab und senkte kurz seinen Blick. Ich wusste, dass es ihm unangenehm war. Und auch in mir brodelte es, weil ich Angst davor hatte, was er sagen würde. Ich wusste zwar, auf was es hinaus laufen würde, doch wahrscheinlich spielte für mich die größere Rolle, wie er es sagte.
»Uns war klar, dass wir nur wieder total Aufregung verbreiten. Ich kann nur beteuern, dass ich glücklich mit Sarah bin, auch wenn sie gerade nicht da ist. Und die Dame in meinem Arm war meine kleine Cousine, die die Zeit über hier ist. Sie hat gerade ihr Abi gemacht und wollte ein bisschen durch die Welt tingeln.«, erklärte Basti. Auf der einen Seite war ich froh, dass er es nun hinter sich hatte und spürte, dass ihm eine Last abfiel, als sich sein Stand lockerte, doch trotzdem spürte ich dieses dumpfe Gefühl in meiner Brust.
»Er ist glücklich mit Sarah, hast du gehört, Papa?«, enttäuscht sah ich zu meinem Vater und spürte, wie meine Laune von Minute zu Minute immer schlechter wurde.
»Das ist Presse, Liv. Was meinst du, wie die sich auf ihn stürzen würden, wenn er auspacken würde, dass es kriselt?!«, versuchte er mich zu beruhigen und drückte meine Hand, die er immer noch in seiner hielt. Ich spürte, dass meine Handfläche schwitzte, vor Aufregung, vor Angst, vor Nervosität, und trotzdem war es egal.
»Ich glaube, ich will erst mal ein bisschen alleine sein.«, hauchte ich und stand schon von meinem Stuhl auf.
»Bist du dir sicher?«, Papa stand automatisch auch auf und ließ meine Hand immer noch nicht los. »Sagst du mir Bescheid wenn irgendetwas ist, Livi?«
»Mach ich, Daddy.«, erwiderte ich nur und war mir sicher, dass ich ihm erst dann Bescheid geben würde, wenn ich absolut gar nicht mehr konnte. Mit einem letzten Kuss von ihm auf meine Wange drehte ich mich um und stieg die zwei kleinen Stufen der Veranda hinunter und lief an dem Kamerateam vorbei, das gerade ihre Klamotten zusammensuchte und über irgendwelche Dinge sprachen, die mich nicht mehr interessierten. Basti konnte ich nicht entdecken, da ich der Moderatorin ungern mein Gesicht entgegenstrecken wollte und wunderte mich umso mehr, als ich seine Stimme plötzlich wahrnahm.
»Liv, hey.«, er kam von hinten angerannt und hielt Schritt mit mir. »Ich habs geschafft.«, er stieß einen Seufzer aus, um mir zu verdeutlichen, dass er erleichtert war.
»Ich weiß.«, sagte ich nur und versuchte, ein sicheres Lächeln auf die Lippen zu bekommen. »Ich will jetzt erst mal alleine sein. Ich muss mich unbedingt hinlegen, irgendwie... irgendwie spielt mein Kreislauf nicht so mit.«, redete ich mich raus, da ich merkte, dass Basti mir sonst womöglich bis in die letzte Ecke meines Zimmers folgen würde. Unsicher wurde er langsamer und druckste herum. War immer kurz davor etwas zu sagen und schluckte es im nächsten Moment schon wieder herunter. Sofort bekam ich Mitleid mit ihm und stellte mein Handeln schon wieder infrage.
»Wir können uns später am Strand treffen, wenn du magst.«, lächelte ich deswegen und sah ihn seine verwunderten Augen.
»Ähm, klar. Ich habe noch Training, aber heute Abend da... da wäre es okay.«, sein Stottern brachte mich fast aus der Fassung und verunsicherte mich. Am liebsten hätte ich die zwei Schritte, die zwischen uns lagen, überbrückt und meine Arme um seinen starken Oberkörper gelegt. Ich wollte ihn spüren und ihm sagen, dass es richtig war, was er getan hatte. Ihm sagen, dass ich trotzdem irgendwie enttäuscht war, weil mich der Fakt störte, dass er sagte, dass er glücklich mit Sarah war. Ich wollte ihn küssen, ihn riechen und einfach nur in seiner Nähe sein. Aber es ging nicht. Wir standen mitten im Camp, ich war die Cousine und es war nicht üblich, dass ich ihn in dieser Rolle, die ich für die Öffentlichkeit zu spielen hatte, küsste. Also ließ ich es, zwang mich selbst dazu, rückwärts zu gehen und meine Hand leicht zum Abschied zu haben. Ich lächelte ein letztes Mal sanft und hoffte, dass er verstand, was in diesem Moment durch meinen Kopf ging.
»Bis später, Liv!«, rief er noch einmal, als ich an der Tür stand und kurz davor war, die Klinke hinunter zu drücken. Als ich über meine Schulter sah, stellte ich fest, dass er noch immer in der gleichen Position dastand, seine Hand leicht gehoben war und er mich mit diesem Blick ansah, der auf der einen Seite Enttäuschung und auf der anderen Sehnsucht ausdrückte. Er brachte mich um den Verstand.
Schwer atmend lehnte ich mich von innen gegen meine Zimmertür und ließ mich langsam an ihr hinuntergleiten. Meine Beine zog ich an meinen Körper und schlug mit meiner flachen Hand zwei mal leicht gegen meine Stirn. Es musste doch irgendeine Lösung für meine Situation geben. Irgendetwas, das diese Situation, dieses Problem, auflösen würde.

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