Kapitel 57

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Ich sah Alaric schweigend an, versuchte zu verstehen, was er mir damit sagen wollte. Dad hatte seine Menschlichkeit abgestellt, aber das bedeutete ja, dass der Teil, den er selbst an sich hasst, alles war, was ihm geblieben ist. „Du musst dich irren", flüsterte ich und hoffte, in Alarics Augen irgendetwas zu finden, was mir meine Befürchtung nehmen würde. Doch er schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Thalia." Ich wollte etwas erwidern, ihm sagen, dass er keine Ahnung hat, doch kein einziges Wort verließ meine Lippen. Stattdessen lief mir eine einzelne Träne über die Wange. In mir wusste ich, dass Alaric die Wahrheit sprach; die kalten Augen, mit denen Dad mich angesehen hatte, ließen keinen Zweifel. Aber ich konnte oder vielmehr wollte ich diese Tatsache nicht akzeptieren. Dad hasste seine Vampirseite und versuchte, sie so gut es ging zu unterdrücken. Der Gedanke, dass diese Seite nun alles war, was ihn ausmachte, ließ mich zusammenzucken.

„Was habe ich getan?", fragte ich mehr mich selbst als die anderen beiden im Raum, doch Liam sah mich verwirrt an. „Was meinst du damit?", hörte ich meinen besten Freund fragen, während ich ihm mit meinem Blick folgte. „Wäre ich einfach mit dir in dieses Flugzeug gestiegen, wäre es nicht dazu gekommen", erklärte ich und hatte Mühe, dass meine Stimme nicht abbrach. „Ich bin schuld, dass Dad das verloren hat, was ihm am Wichtigsten ist. Ich bin schuld, dass er seine Menschlichkeit verloren hat." Mit jedem Wort wurde ich lauter, verzweifelter und panischer. „Was ist, wenn er für immer in diesem Zustand bleibt?", dachte ich, während mir das Gefühl kam, als würde die Luft im Raum immer weniger werden und mir nicht den Sauerstoff liefern, den ich zum Überleben brauche.

„Ich muss hier raus", brachte ich atemlos hervor, als ich aus dem Raum stürmte. Die Rufe von Liam und Alaric ignorierte ich, da ich nicht in der Lage war, mir irgendwelche beruhigenden Worte von ihnen anzuhören. Immer weiter trugen mich meine Beine aus der Schule hinaus, über den Schulhof, bis ich schließlich im Wald ankam. Sofort verlangsamte ich meine Schritte und versuchte mich zu orientieren, bis ich erkannte, dass der See, an dem Dad und ich früher häufig waren, gar nicht weit von hier entfernt war. Bis auf das Gezwitscher der Vögel war der Wald ruhig, und so war es letztlich die Stimme in meinem Kopf, die immer wieder „Du bist schuld" flüsterte, welche alles andere übertönte.

Am See ließ ich mich auf die Bank am Wasser sinken, und die Dämme brachen sofort. Ich konnte die angestauten Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich dachte an Dad und mein Leben hier in Portland und daran, wie viel seit unserem Umzug passiert ist. Dabei kam ich nicht drumherum, auch an die Momente zu denken, in denen Dads Vampirseite hervorkam. Auch wenn ich wusste, dass er mir nie etwas tun würde, hatten mir diese Momente immer Angst gemacht. Sie verdeutlichten mir, dass mein Dad nicht der Vater von nebenan war, sondern immer noch eine dunkle Seite in ihm steckte. Eine Seite, die jetzt an der Macht war. Auch wenn Dad am Flughafen einfach gegangen war, wusste ich nicht, ob ich immer noch vor ihm sicher war. Seine menschliche Seite war es, die mich beschützt hatte, sich um mich sorgte und mit allen Mitteln versuchte, mich in Sicherheit zu wissen. Jetzt, wo sie weg war, wusste ich nicht, ob er noch einen Grund hatte, mich zu verschonen. Auch wenn ich wusste, dass der Gedanke falsch war, war ich in dem Moment froh, mehrere tausend Kilometer entfernt zu sein.

Mein Blick lag auf dem Wasser, das sich durch den Wind leicht kräuselte, während ich versuchte, meine Atmung wieder zu beruhigen und die Tränen zu stoppen. Ich zog mein Handy hervor und sah, dass sowohl Alaric als auch Liam versucht hatten, mich anzurufen. Erst jetzt bemerkte ich, dass bereits zwei Stunden seit meinem Verschwinden vergangen waren. Schnell schrieb ich Liam, dass es mir gut ging und ich bald zurück bin, ehe ich aufstand und den Rückweg antrat. Zwar waren meine Tränen versiegt, doch machte sich stattdessen ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit in mir breit, das mir jeden positiven Gedanken nahm.

Der Rückweg zur Schule dauerte etwa 30 Minuten, an der noch immer Alarics Auto parkte, weswegen ich davon ausging, dass die beiden noch im Klassenzimmer waren. Widerwillig schlug ich den Weg zur Tür ein, hinter der ich die beiden reden hörte. Bevor ich eintrat, hielt ich einen Moment inne, um mich zu sammeln, drückte dann aber die Tür auf. Augenblicklich verstummte Liam und sah mich genauso wie Alaric an. „Hey", begrüßte ich die beiden mit leiser Stimme, in der Hoffnung, sie würden mir nicht böse sein.

„Das war ziemlich unverantwortlich", begann Alaric, während er mich gründlich musterte. „Du kannst froh sein, dass dir nichts passiert ist", fügte er hinzu, als auch schon Liam aufstand, um mich in den Arm zu nehmen. „Es ist nicht deine Schuld. Elijah hat selbst entschieden, diesen Schritt zu gehen. Bitte gib dir nicht die Schuld", flüsterte mein bester Freund in die Umarmung hinein, was mir erneut Tränen in die Augen trieb. Mit Mühe hielt ich sie zurück und nickte dann, um ihm zu zeigen, dass ich ihn verstanden hatte. „Danke", gab ich ebenso leise zurück und sah dann zu Alaric, der uns mit einem leichten Lächeln ansah und mir zunickte, als sich unsere Blicke trafen.

Alaric bot uns an, nach Hause zu fahren, und ich war mehr als froh, nicht noch einen Schritt mehr als nötig tun zu müssen, da sich durch den Stress der letzten Stunden eine Müdigkeit in mir breitgemacht hatte. Mit der Aufforderung, uns gleich zu melden, wenn es etwas Neues gibt, setzte Alaric uns vor der Tür ab, bevor er selbst wieder davonfuhr und uns zurückließ. „Ich würde mich einen Moment hinlegen. Bin ziemlich müde", gestand ich meinem besten Freund, sobald wir das Haus betreten hatten, und konnte mir ein Gähnen nicht verkneifen. „Ich wecke dich, wenn wir essen", versprach Liam. Mit einem leichten Lächeln dankte ich ihm, ehe ich die Treppe nach oben lief, mir etwas Bequemes anzog und mich aufs Bett fallen ließ. Ich hatte nicht mal mehr die Möglichkeit, mein Handy auf eine Nachricht von Dad zu prüfen, als ich auch schon eingeschlafen war.

Die Tochter von Elijah MikaelsonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt