Ich klopfe unruhig an die Holztür. Sie ist kühl. Und meine Haut ist warm. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich bereits nach wenigen Sekunden und meine Gedanken beginnen zu kreisen wie ein Karussell auf einem Jahrmarkt. Runde um Runde drehen meine Gedanken, schneidern sich die dunkelsten Szenarien aus den düstersten Farben und malen ein graues Bild mit kaum Pigmenten. Meine faustgeballte Hand schlägt zweimal auf das Holz. Keine Reaktion. Ein zweites Mal. Erneut keine Reaktion. Besorgt, aber entschlossen öffne ich die Tür ohne weiter über mein Handeln nachzudenken und ich betrete den Raum.Schritt für Schritt, Fuß setze ich vor Fuß. Vorsichtig.
Ein hektisches, gar panisches Atmen füllt den noch dunklen Raum. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen, denn mein Unterbewusstsein realisiert bereits Dinge, die ich nicht wahrhaben möchte. Eilig ziehe ich die Vorhänge beiseite und der Raum füllt sich vollständig mit Licht. Nun ist jede Ecke des Raumes mit Sonnenlicht durchflutet. Jedoch sofort liegt mein Blick, sowie meine gesamte Aufmerksamkeit, bei Marie. Besagte liegt vollkommen geschwitzt in ihrem Bett, einzelne Haarsträhnen kleben an ihrer Stirn und hängen in ihrem Gesicht. Ihr kleiner Brustkorb hebt und senkt sich panisch und ihr Blick ist starr an die Decke gerichtet. Ich spüre die Angst, die sich in ihr breit macht, durch ihre Venen jagt und die Panik, die ihr die Kehle hochkriecht. Es verleiht einem das Gefühl zu ersticken und raubt einem die Möglichkeit etwas dagegen zu unternehmen. Wie gerne würde ich ihr all den Schmerz und das Leid abnehmen.
»Lorena«, japst Marie kraftlos und regt sich keinen Zentimeter. Außer ihre schmalen Lippen bewegt sich kein weiteres Körperteil. Ihre blasse Haut ist mit Schweißperlen besetzt. »Alles ist nass. Es tut mir Leid. Sei bitte nicht sauer auf mich.« Sofort überbrücke ich die Distanz mit zwei großen Schritten und lege meine Hand beruhigend an die warmen Schläfen von Marie. Sie ist nass geschwitzt. Mit trüben gläsernen Augen blickt sie mir entgegen und ihre tiefen Augenringe lassen auf ihre Müdigkeit schließen. »Ich bin nicht sauer, niemals, verstanden?«, beginne ich aufmunternd, »Du musst mir aber jetzt genau beschreiben was du fühlst. Das ist wichtig, okay?«, fordere ich und streiche über ihre Schläfen. Währenddessen fällt mein Blick auf das nasse Bettlaken. »Meine Hände und Füße«, beginnt sie und schaut sich panisch um, doch bewegt ihren Körper nicht vom Ausgangspunkt, »sie kribbeln so stark. Ich spüre sie kaum. Alles brennt, wie Feuer.«
Ich nicke, während mir mein Gefühl langsam, Stück für Stück die Hoffnung raubt und meine errichtete Schutzmauer bröckeln lässt. »Es ist so warm. So unglaublich warm. Mir ist so unglaublich warm. Und ich konnte es nicht halten. Es ist einfach geflossen«, murmelt sie beschämt. Ich wusste sofort, dass diese Aussage auf das nasse Bettlaken bezogen ist. Sie konnte ihren Urin nicht halten. »Es ist nicht schlimm, Marie. Wir bekommen das wieder hin, keine Sorge«, nehme ich ihre Angst und drücke bestärkend ihre Hand.
Und in diesem Moment wird mir wieder klar, dass manche Dinge unvermeidlich weiter bergab gehen. Wir bekommen das wieder hin. Es schmerzt so unendlich, es reißt mir das Herz bei lebendigen Leib aus der Brust.
Multiple Sklerose ist unberechenbar und es wird Marie ihr noch so junges Leben kosten. Die Frage nach dem Warum bleibt ungeklärt und mit jeder weiteren Sekunde kann es zu Ende sein, denn es beschränkt sich auf keine Zeitangabe.
Das MS schlägt zu, dann wenn es am Schönsten ist, erbarmungslos, kaltblütig, plötzlich. Multiple Sklerose ist es egal, es nimmt keine Rücksicht auf Befindlichkeiten, es raubt einem erst die Hoffnung, dann den Lebenswillen und schließlich das strahlende Licht, das Lebenselixier, welches einen dazu bewegt nicht aufzuhören. Und langsam, nach und nach, zerstört es dich und deinen Körper. Es baut mit jedem Tag einen weiteren Stein deiner Lebenszeit ab. Es ernährt sich von deiner Schwäche und liebt deine Angst, während es deine Stärke zerstört und deinen Lebenswillen nicht akzeptiert.
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Wie Zimt und Zucker
RomanceWie Zimt und Zucker ❝ Für das engelsgleiche Mädchen, welches ihr Lachen verlor. ❞ Lorena Campbell wollte schon immer Gutes tun. Ihre Berufswünsche waren nie außergewöhnlich, für sie war von klein auf schon klar, dass sie anderen Menschen helfen möc...