Mein Blick gleitet langsam über die leuchtenden Lichter der Stadt. Meine Augen saugen in diesem Moment jeden einzelnen Lichtstrahl, jedes kleine Funkeln, komplett auf. Die Sterne funkeln in dieser Nacht besonders hell, fast ebenso hell wie die Lichter der Stadt. Wolkenlos war der fast schwarze Nachthimmel. Mein warmer Atem bildet weiße Rauchwolken und ich lächele. In diesem Moment vernahm ich nur diesen Reiz, all die anderen Dinge blende ich vollkommen aus. Von hier oben kann man die vielen Punkte der Straßenlaternen, aber auch einiges an hübschen Weihnachtsschmuck ausfindig machen. Alles wirkt so klein, aber dennoch wunderschön. »Das hier ist mein Lieblingswort in dieser abgefuckten Stadt der Urteile und Vorurteile«, murmelt Nathaniel und bricht die bis in diesem Moment angehaltene Stille. Meine Jacke ziehe ich fester um meine Taille, meine Hände schlinge ich um meinen schlanken Oberkörper. Langsam beginnt meine Nasenspitze zu frieren und taub zu werden, jedoch blende ich diesen Fakt schnell wieder aus. Meine eiskalten Hände und meine eingefrorenen Fingerkuppen vergrabe ich noch tiefer in meiner warmen Winterjacke.
Bedacht drehe ich mich zu Nathaniel, der seinen Blick gradeaus in die Lichtermenge gerichtet hat. Frontal wird sein Gesicht von vielen bunten Lichtern angestrahlt, die seine markanten Gesichtszüge exakt betonen. Ich schweige, denn ich weiß nicht so recht, was ich auf seine Aussage antworten soll. Mein Blick haftet jedoch weiter auf ihm.
»Dieses Diner da hinten«, beginnt er wieder und dreht seinen Oberkörper leicht seitlich, um mit seinem ausgestreckten Finger auf ein Diner zu zeigen. Mein Blick wandert seinem Finger nach und hingegen meiner Erwartungen steht dort tatsächlich ein komplett intaktes Diner. Ohne jegliche Beleuchtung und ziemlich in die Jahre gekommen ist es auch. »Es steht schon lange leer. Als es ein Typ von einer großen Kette schlucken wollte, kam ich diesem jemand vor und kaufte es. Jetzt ist es meins«, trifft er unbeeindruckt die Aussage. »Ich verbinde viele Erinnerungen mit diesem Gebäude, deswegen wollte ich nicht, dass es von einer großen Fast-Food-Kette gekauft und mit grottig schlechten Essen in Betrieb gebracht wird.« Ich nicke, schlucke und sammele in meinen Kopf passende Wörter. »Und du willst dieses Gebäude jetzt verkommen lassen?«, hake ich neugierig nach. Auch wenn diese Frage sicherlich unangebracht in diesem Moment ist, brannte sie mir dennoch auf den Lippen. Mir erschließt sich das Ganze nicht wirklich, denn diesem schönen Ort hätte sicherlich kein gutbesuchtes Etablissement geschadet. Auf meine Frage bekomme ich keine Antwort, nichtmal eine Emotion entweicht Nathaniel. Besagter steht weiterhin unbeeindruckt da und starrt in die Lichtermenge der Stadt. Sein Gesichtsausdruck starr, keine Regung, nichts. Beide seiner Hände sind tief in seiner Jackentasche vergraben.
»Willst du Mal reingehen?«, fragt Nathaniel plötzlich, allerdings zögerlich und ich nicke. Das Geklimper seines Schlüsselbund erinnert mich jedoch daran, dass mein Gegenüber mich keines Blickes würdigt und er deswegen mein Nicken nicht vernimmt. »Ja«, murmele ich schließlich und warte auf Nathaniel's Reaktion. Einzig ein stummes Nicken folgt auf meine Aussage. Als Nathaniel sich in Bewegung setzt, stampfe ich ihm motiviert hinterher. Jeder Schritt mit Bedacht, denn in diesem Moment konnte ich es am wenigsten Gebrauchen hinzufallen. Dieses Szenario wäre nicht nur höchst unangenehm, sondern auch derbe dumm. Einige Meter laufen wir, dann sind wir auch schon an der verstaubten Eingangstür angekommen. Überall in den Ecken hängen Spinnennetze. Nathaniel stellt sich an die beschlagene Glastür und steckt den Schlüssel ins Loch, diesen dreht er darauf einige Male, stemmt sein Bein mit Wucht gegen die alte Tür und drückt sie mit viel Kraft auf. Schnell schlüpfen wir durch den Türspalt. Während Nathaniel sofort an den Stromkasten läuft und dort einige Sicherungen aktiviert, bleibe ich in Eingangsbereich stehen. Der Geruch erinnert mich an etwas, jedoch weiß ich in diesem Moment nicht genau was.
Klack, Klack, Klack...
Und plötzlich geht das Licht an. Erstaunlicherweise dauert es gar nicht Mal so lange, wie ich es für diese alten Stromleitungen erwartet hatte. Langsam schaltet sich Licht für Licht an und das Diner erscheint in seiner kompletten Gestalt. Rot-weiß karierte Fließen und rote Sitznischen aus Leder. Komplett mit einer Schicht Staub überzogen aber dennoch intakt. Viele Barhocker standen an einem langen Tresen, welche ebenfalls mit dem roten Lederdesign schlicht gehalten sind. Wow. Ich muss schlucken. »Was ist seine Geschichte?«, frage ich mich und bekomme von Nathaniel wunderlicher Weise eine Antwort.
»Es gehörte meinen Großeltern. Ich habe hier viel Zeit verbracht, ausgeholfen. Viele Stunden habe ich hier totgeschlagen, Schulaufgaben gemacht, gelernt, gegessen. Etliche Situationen meiner Kindheit haben sich hier abgespielt. Schöne Momente, aber auch nicht so schöne Ereignisse. In der Weihnachtszeit war ich gerne hier, habe meinen Großeltern geholfen bedürftige Menschen zu bedienen. Diese Menschen durften über die Weihnachtstage hier verbringen. Meist hatten sie keine Familien, wo sie über Heiligabend hin konnten, deswegen feierten sie hier als Familie. Kostenlos konnten sie hier trinken, essen und haben auch einen warmen Schlafplatz gehabt. Das war das Weihnachtsgeschenk meiner Großeltern an bedürftige Menschen dieser Stadt. Bequem ist dieser Schlafplatz jetzt nicht so wirklich-«, erzählt er und sein Blick fällt auf die Ledernischen, »aber ich denke den armen Menschen hat es gereicht.«
Gespannt lausche ich den Wörtern von Nathaniel. In ihnen liegen solch viele Emotionen, das ich mich gar nicht traute, irgendwelche Fragen zu stellen oder ihn gar zu unterbrechen. »Irgendwann erhielt mein Opa seine Krebsdiagnose. Einen Gehirntumor im Endstadium. Sie gaben ihm nicht Mal mehr als ein Jahr. Meine Oma hatte kaum noch Zeit für dieses Diner, wollte es aber trotzdem am Leben halten. Daran hat sie alles gesetzt. Zwei Jahre später verstarb mein Opa nach langem Leiden. Oma hat sich daraufhin richtig in die Arbeit gekniet und sich und ihre Bedürfnisse dabei völlig vergessen. Körperliche Aussetzer waren die Folge. Öfter Mal ist sie vor meinen Augen umgekippt, einfach zusammengebrochen. Oft wählte ich die Nummer des Rettungsdienstes. Und auch irgendwann erkrankte meine Oma. An Alzheimer. Nach und nach vergaß sie Dinge, sie vergaß nahezu alles. Nur mich und meine kleine Schwester nicht«, fährt er mit seiner Erzählung fort. Er kneift seine Augen zusammen, als würde er die Bilder vor seinem Auge sehen und sie einfach nur löschen wollen. »Doch irgendwann vergaß sie auch uns.«
Ich muss schlucken. Ich fühlte mich schlecht, dass ich vorhin solch eine Frage stellte, ohne seinen Beweggrund hinter all dem abzuwarten. Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle, das Atmen fällt mir schwer. Meine Augen beginnen zu brennen und ich muss mich stark zusammenreißen nicht gleich meinen kompletten Emotionen freien Lauf zu lassen. Jedoch reihe ich mir einige Wörter in einem Satz zusammen und raufe mich dazu auf, diese laut auszusprechen. Mein sanfter Blick liegt auf Nathaniel, der meinen Blick sichtlich zu meiden scheint. Einen roten Schimmer erkenne ich auf seinen Wangen, was für mich völlig okay ist, denn eigentlich entspricht das nicht der regulären Natur des Nathaniels, den ich kenne. Doch dieser Nathaniel in diesem Moment zeigt mir eine ganz andere Seite, er zeigt mir seine verletzliche Seite ohne sich hinter seiner Arroganz und all den weiteren Masken zu verstecken.
»Deine Großeltern wären stolz auf dich«, stelle ich mit kehlige Stimme fest entschlossen fest, zudem nicke ich überzeugt. »Das verspreche ich dir.«
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Wie Zimt und Zucker
RomansaWie Zimt und Zucker ❝ Für das engelsgleiche Mädchen, welches ihr Lachen verlor. ❞ Lorena Campbell wollte schon immer Gutes tun. Ihre Berufswünsche waren nie außergewöhnlich, für sie war von klein auf schon klar, dass sie anderen Menschen helfen möc...