Zufrieden schweift mein Blick über die vielen Obst- und Gemüseteller, die breit gefächert auf dem Tisch stehen. Als ich mein Augenpaar weiter durch den Raum gleiten lasse, fällt mein Blick auf Hope, die grübelnd im Türrahmen steht. Ihre Wangen verfärben sich rötlich, als sie bemerkt, dass ich sie leicht verwirrt anschaue. Irritiert kräusele ich die Stirn und bleibe wie erstarrt auf der Stelle stehen. »Lorena«, murmelt sie leise und holt tief Luft. Hat Hope nicht die Nachtschicht gehabt? Was macht sie dann noch hier? Ich mustere Hope, die ziemlich geschlaucht aussieht. Ihre Augen glanzlos und ihre sonst so reine Haut geprägt von vielen Hautunreinheiten. Unter ihren Augen stechen blaue Augenringe hervor, die meinen Blick für einige Sekunden gefesselt halten. »Können wir reden?«, fragt Hope und knetet nervös ihre Hände, wankt ihr Gewicht von dem einen, auf das andere Bein. Ich nicke stumm und schlucke schwer. Als sie mir ein leichtes Lächeln schenkt, wird meine Aufmerksamkeit auf eine Auseinandersetzung im Flur gezogen.
»Entschuldige mich«, hauche ich in die entstandene Stille und verlasse eilig den Raum. »Du nervst mich. Dein Bruder ist dumm, arrogant und ein Schnösel«, flucht Rick aufgebracht und drückt seine Hände zu Fäusten. Der Schmerz ist ihm ins Gesicht geschrieben. Angestrengt versuche ich meine zuckenden Mundwinkel ruhig zu stellen. Allerdings hat Rick mit der Meinung recht. Nathaniel ist ein arroganter und dummer Schnösel. »Mein Bruder ist nicht dumm und auch nicht arrogant. Wenigstens ist meine Familie nicht auf Harz 4 angewiesen«, kontert Marie und meine Kinnlade klappt runter. Eine Zornesfalte legt sich auf seine Stirn und Rick läuft ungesund rot an. Seine Augen sprühen Funken und er ballt erneut seine Hände zu Fäusten. Seine dünnen Lippen sind nun komplett verschwunden und sein Mund ist nun ein grader Strich. Die Schmerzen überspielt er gekonnt, wie ein Meister, der bereits einiges an Übung gewonnen hatte. »Wenigstens habe ich noch eine intakte Familie«, schießt er ihr entgegen. Ich konnte die Kugel sehen, die sich grade in die Brust von Marie bohrt und ein großes Loch in ihrem Herz hinterlässt. Sofort bilden sich Tränen in den Augen von Marie und als sie mich erblickt, brechen alle Dämme. Die kleine Marie bricht in Schluchzen aus und Rick steht kommentarlos daneben. Er zeigt keine Reue und macht keine Anstalten sich bei Marie zu entschuldigen.
Seine Arme hängen orientierungslos neben seinem Körper, schlaff, und sein Kiefer scheint immer noch zu mahlen. »Rick, sei nicht so gemein. Man kann sich weder seine Familie noch sein Schicksal aussuchen«, erkläre ich an beide gewandt und knie mich zu ihnen runter. »Die nervt mich aber«, faucht er und stampft wütend auf den Boden. »Ich freue mich doch nur«, erwidert sie verständnislos und blickt mich hilfesuchend an. Ihre Augen sind Tränen unterlaufen und das Glänzen in ihnen ist verschwunden. »Dann freu dich bei jemand anders, mich nervst du damit aber nicht!«, antwortet er forsch und sie keucht erschrocken auf.
»Guck mal, Marie«, beginne ich und warte, bis sie mich ebenfalls anschaut. Mit mattem Blick guckt sie mich an. Ihre blonden Haare völlig zerzaust und ihre Haut rötlich verfärbt. Langsam merke ich, dass sich meine Füße melden. Ein unangenehmes Kribbeln entsteht, was schnell zu einem Taubheitsgefühl umschlägt. »Du kannst immer zu mir kommen und mir alles erzählen. Aber manche Menschen möchten lieber alleine sein und nichts von anderen hören. Das musst du verstehen«, sage ich streitschlichtend und wende mich von Marie ab. »Und du Rick, du musst nicht immer so über reagieren. Bitte«, bitte ich ihn und er nickt widerwillig. Ich schenke ihm ein leichtes Lächeln und sehe, wie sich seine Gesichtszüge lockern.
Nun stehe ich wieder auf und blicke auf Marie runter, ihre Hände liegen an den Rädern ihres schwarzen Rollstuhls, ihre Finger umklammern das Metall fest. »Das Frühstück beginnt gleich, nicht vergessen!«, rufe ich den beiden in Erinnerung und gehe wieder zurück in den Frühstücksraum. »Was wolltest du mit mir besprechen?«, knüpfe ich an das unterbrochene Gespräch an und schaue Hope an. Etwas an ihr hat sich verändert. Die komplette Stimmung in diesem Raum hat sich verändert. Vielleicht ist es aber auch ihre Mimik, die mittlerweile deutlich freundlicher und nicht mehr so müde ausschaut. »Ich wollte nur fragen, ob du heute Abend mit auf die Party kommst?«, erklärt sie und ich kräusele die Stirn, einer meiner Augenbrauen wandert in die Höhe und ich schaue ihr irritiert entgegen. »Das wolltest du mir so dringend erzählen, dass du dafür sogar deine Freizeit opferst«, murmele ich und lache leise, ersticke es aber Recht schnell wieder im Keim.
»Na ja, ich möchte da nicht alleine hingehen und ich denke, dass es dir gut tuen könnte«, erwidert sie. »Musst du nicht arbeiten?«, hake ich nach und ich hoffe, dass sie es vergessen hatte, dass sie heute Abend Nachtschicht schieben muss. »Nein, ich habe mir frei genommen«, bringt sie raus und ich nicke, bleibe aber stumm. Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren, verzweifelt suche ich nach guten Ausreden und Erklärungen, die ich ihr liefern kann, doch ich finde keine. Sie würde mir sowieso nicht glauben. »Komm, bitte, Lorena. Das wird lustig«, bettelt sie mich an. »Ich muss aber morgen arbeiten«, erkläre ich und sie schüttelt grinsend den Kopf. »Es hat ja keiner gesagt, dass du dich volllaufen lassen musst«, sagt sie und meine Kinnlade klappt runter. Sprachlos blicke ich sie an, Hope, die breit grinsend vor mir steht, scheint mein Gesichtsausdruck nur noch mehr zu belustigen.
»Ich hol dich ab, heute Abend um Acht. Schreib mir deine Adresse und wehe du machst nicht auf.« Ich seufze. Jetzt ist es dingfest und ich kann keinen Rückzieher mehr machen. Auch wenn ich mit keiner Silbe in dieser Konversation grade zugestimmt habe, ist sie meine Meinung völlig übergangen und hat meine Antwort komplett ignoriert. Das letzte Mal, als ich auf einer richtigen Party war, habe ich mich so volllaufen lassen, dass mich meine Eltern abholen mussten. Ich hatte Liebeskummer, großen Liebeskummer - mein erster fester Freund hat mich verlassen, für eine andere. Für ein Mädchen mit blonden Haaren und zehn Tonnen Schminke im Gesicht. Sie sah aus wie einbetoniert und was ich ihr nie erzählt habe ist, dass ihre Haare einen grauenvollen Gelbstich hatten. Im ganzen hat sie mich an eine Vogelschrecke erinnert - an eine Vogelschrecke mit Heu als Haaren und massig Schminke im Gesicht.
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Wie Zimt und Zucker
RomansaWie Zimt und Zucker ❝ Für das engelsgleiche Mädchen, welches ihr Lachen verlor. ❞ Lorena Campbell wollte schon immer Gutes tun. Ihre Berufswünsche waren nie außergewöhnlich, für sie war von klein auf schon klar, dass sie anderen Menschen helfen möc...