Sarah verlangte von mir das Unmögliche. Ich sah mich nie als den Retter in Not. Ich hatte ihr keine Antwort auf ihre Frage gegeben denn Thomas rauschte in diesem Moment ins Zimmer. Oben ohne, nur mit einem Handtuch bekleidet und von seinem Oberkörper perlten noch immer kleine glitzernde Wassertropfen ab. Er war nicht unbedingt ein Muskelpaket, ließ dich aber auf jeden Fall zweimal hinschauen. Bis jetzt hatte ich es nicht gewagt, Thomas von meiner neuen Stelle als höchstpersönliche Sklavin des Kaisers zu erzählen. Er wäre wahrscheinlich zu Dominik marschiert und hätte versucht ihm den Kopf abzureißen, ganz egal, wie es für Thomas dann ausgegangen wäre. Ich musste ihn vor sich selbst schützen.
Der Abend gestern endete für mich bewusst um 1 Uhr in der Früh. Immerhin sollte ich heute schon um halb sieben bei meinem Vater sein. Wenn ich jemanden kennenlernte, verheimlichte ich oft sehr lange, dass ich Jägerin bin. Obwohl ich sehr stolz darauf bin. Die Leute verstehen die Jagd leider nicht, sie sehen Menschen mit Gewehren neben toten Tieren, aber niemand fragt, was dahintersteckt. Oft werde ich gefragt, wie ich zur Jagd gekommen bin – die Antwort ist ganz einfach: Durch meinen Vater. Die Jagd war immer unsere Gemeinsamkeit. Seit ich selbst auf einen Hochstand klettern konnte, hat er mich mitgenommen und es sind die schönsten Erinnerungen, die ich an meine Kindheit habe. Draußen in der Natur, zwischen all dem Grün sitzend als Teil der Natur. Die vermeintliche Stille, die sich nach genauem Hinhören in ein lautes Geräuschwirrwarr verwandelt, dass sich schlussendlich in die einzelnen Stimmen der Waldbewohner zerlegen lässt und so viel Information über diesen Ort preisgibt. Draußen auf der Jagd waren Vater und ich wirklich Vater und Tochter. Die Natur ließ auch ihn ruhiger werden.
Mit meinem Auto fuhr ich eine knappe dreiviertel Stunde zu meinem Vater, daher quälte ich mich nach ganzen vier Stunden Schlaf schon aus dem Bett. In meiner Wohnung war leider kein Platz für meine Jagdsachen. Diese musste ich leider bei meinem Vater verwahren, daher schlüpfte ich schlaftrunken in meine grüne Jogginghose, setzte meine Kontaktlinsen ein und fuhr los. Das Grummeln in meinem Bauch wurde immer stärker, je näher ich meinem Elternhaus kam. Die Reaktionen meines Vaters waren jedes Mal anders. Ich wusste nicht, wie er heute drauf sein würde, aber nachdem wir jagen gingen, standen die Chancen gut, dass er heute ein umgänglicher Mensch war. Und sobald wir in der Öffentlichkeit waren, war er sowieso ein komplett anderer Mensch. Freundlich, offen, witzig und charmant. Niemand sah, wie er hinter verschlossenen Türen war. Niemand, außer ich.
Nachdem ich durch unsere Haustür getreten war, roch ich schon das Frühstück. Ich entledigte mich meiner Schuhe und tappte leise auf Socken in unsere alte Küche. Den Schlüssel zu meinem Elternhaus hatte ich immer noch und würde ihn auch nie hergeben. Am Tisch stand schon ein dampfendes Häferl mit süßlich riechendem Kakao. Als kleines Mädchen trank ich jeden Tag einen in der Früh. Inzwischen bevorzugte ich Kaffee, aber ich konnte meinem Vater nicht die Illusion nehmen, immer noch nicht erwachsen zu sein. Für ihn werde ich für immer und ewig sein kleines, zerbrechliches Mädchen bleiben. Dennoch schlug er mich regelmäßig.
„Guten Morgen, Liebes", begrüßte mich mein Vater, hinter dem Herd stehend. In der Pfanne vor ihm brutzelten gerade Spiegeleier vor sich hin. Ich ging zu ihm und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, wie ich es immer tat, wenn ich ihn sah.
„Guten Morgen, Vater."
„Hungrig?", erwiderte er.
„Das fragst du noch?"
Eine Stunde später saßen wir in seiner G-Klasse und fuhren nach Sparbach. Was den meist Wiener Besuchern als riesiger Naturpark verkauft wurde, war eigentlich ein riesiges Jagdgebiet, dass sogar eingezäunt war. Aber auf diese Größe gerechnet, fiel der Zaun gar nicht auf. Keine Ahnung, wie es mein Vater dieses Mal wieder vollbracht hatte, dass wir zu dieser Jagd eingeladen wurden, aber wahrscheinlich war es wieder einmal ein Tauschhandel gewesen. Immerhin besaß er auch genügend Wald, in dem oft genug Jagden stattfanden. Er dürfte genauso müde gewesen sein wie ich, denn die Fahrt verlief größtenteils ruhig. Ich hatte ihm noch nichts von meiner „Beförderung" erzählt. Oder von meiner vielleicht anstehenden Kündigung. Wenn ich wirklich kündigte, würde mir Dominik jeden weiteren Job in dieser Branche verbauen, somit würde mir nichts anderes übrigbleiben als nach Hause zu meinem Vater zurückzukehren und den Betrieb zu übernehmen. Ich sollte es zu meiner Bedingung machen, dass Dominik mir einen anderen Job besorgte. Genau in diesem Moment fuhren wir auf einem Feldweg über ein kleines Schlagloch und das Auto rumpelte darüber. Genau in diesem Moment war ich schockiert über mich selbst. Wann genau hatte ich beschlossen, mich auf Dominik einzulassen?
Viel Zeit zum Nachdenken hatte ich in diesem Moment aber nicht mehr. Wir bogen schon auf den Sammelplatz ein und parken unsere G-Klasse neben all den anderen viel zu teuren Autos. Wer kaufte sich solch teure Autos und fuhr damit erst nur im Wald herum, wo sowieso nur der Lack zerkratzt wird? Aber wer hat, der hat.
Viele Jäger waren schon dort und auch einige Jägerinnen. In kleinen Grüppchen standen sie beisammen, dampfende Häferl in der Hand. Ein Mischmasch aus grün und orange verteilte sich über den gesamten Platz, auf den einzelnen Feuerkörbe standen, die bereits entzündet wurden. Das Ambiente war unbeschreiblich.
Meinen Hut aufsetzend stieg ich aus dem Auto und ging gemeinsam mit meinem Vater zum Jagdherren, um ihn zuerst zu begrüßen.
Bereits vom Weitem sah ich ihn. Den dicken liebenswürdigen Mann mit dem aufgedrehten Schnauzer, der immer eine Umarmung für mich hatte. In einer Hand das dampfende Häferl, in der anderen Hand ein Paar Frankfurter, streckte Magnus beide Hände aus und eilte auf uns zu. Seine kurzen Beine sahen in den grünen Gummistiefel noch dicker aus, die Hose platzte aus allen Nähten und das Hemd, das unter der orangen Jacke hervorlugte, forderte seine Knöpfe zu Höchstleistungen auf.
„Weidmannsheil, Joachim, Weidmannsheil", rief Magnus. „Schön, dass ihr es geschafft habt."
Mein Vater erwiderte Magnus Weidmannsheil und reichte ihm die Hand. Erst jetzt fiel dem rundlichen Jagdherren auf, dass er keine Hand frei hatte. In diesem Moment ging Magnus Sohn vorbei, dem er einfach all seine Sachen in die Hand drückte, damit er uns begrüßen konnte.
Magnus Sohn eiferte seinem Vater nach, nicht was die jagdlichen Fertigkeiten anging, sondern seinem Aussehen. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass er die Frankfurter gleich selbst verspeiste.
Magnus erwiderte nun endlich den Handschlag meines Vaters und zog mich gleich in eine viel zu feste, viel zu enge Umarmung, die ich von meinem Vater so gern einmal erhalten hätte.
„Elina, meine kleine Prinzessin, Weidmannsheil. Ohne dich wäre es nur halb so schön", fügte er noch mit einem Augenzwinkern hinzu und ließ mich endlich wieder Luft holen.
„Weidmannheil, Magnus. Ich hätte wissen müssen, dass du hinter der Jagd steckst", grinste ich und mein Herz war durch diese Umarmung wieder ein kleines Stückchen zusammengewachsen. Jetzt ergab es für mich auch einen Sinn, warum wir bei dieser Jagd waren. Magnus und mein Vater waren seit Jahren befreundet und Magnus für mich immer der verwunderliche Onkel, der mit Anlauf in jedes Fettnäpfchen hüpfte. Bei seinem Körperumfang konnte man sich den anschließenden Schaden ja ausrechnen.
Nach einem kurzen Gespräch drehten mein Vater und ich eine Runde, um alle anderen Jagdteilnehmer zu begrüßen. So wie es sich bei der Jad gehörte, indem man jeden einzelnen mit einem Handschlag und einem Weidmannsheil begrüßte. Überall wurden wir in ein kurzes Gespräch verwickelt. Einerseits, weil sich mein Vater wirklich von seiner besten Seite zeigte, andererseits weil die Leute immer wieder hofften, auch zu einer Jagd bei uns eingeladen zu werden. Da sich bereits mindestens 50 Leute auf dem Sammelplatz befanden und immer wieder neue dazu kamen, dauerte die Begrüßung entsprechend lange. Mein Vater hatte mich Jahre lang auf höfliche Konversation hintrainiert, also meisterte ich hier alles zu seiner Zufriedenheit und mimte die unschuldige, kleine Tochter, die durch ihren Vater zu einer passionierten Jägerin wurde.
Kurz bevor sich der Begrüßungsmarathon langsam dem Ende zu neigte, spürte ich einen stechenden Blick in meinem Rücken, bei dem sich sofort alle Härchen auf meinem Körper aufstellten.
Am Waldrand entlang blickend, vorbei an vielen grünen Hüten mit orangen Signalbändern oberhalb der Krempe, wandte ich mein Gesicht in die Richtung, aus der ich dieses bohrende Gefühl vermutete.
Am anderen Ende des Platzes, bei einem Feuerkorb, standen zwei Männer, die wohl gerade erst angekommen waren. Magnus stand gegenüber von ihnen und begrüßte den älteren der beiden überschwänglich. Obwohl der ältere Mann gerade von Magnus Körperfülle verschlungen wurde, erkannte ich ihn in dem Moment, in dem ich ihn gesehen hatte. Daneben stand der Ursprung meines stechenden Gefühls und starrte mich mit seinen braunen Augen über den ganzen Platz hinweg an. Ein leichtes Lächeln hatte sich auf sein Gesicht gelegt und dieses ließ ihn noch furchterregender wirken als er ohnehin schon war.
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Immer sie!
ChickLitFortsetzung von "Warum ich?" Elina entkam ihrem strengen Vater durch einen neuen Job in der Werbeagentur D&H. Bereits seit ihrem ersten Tag hat sie das Gefühl, der Geist der Vergangenheit spukt durch die ganze Firma. Während sie versucht ihr Leben...