Teil 16

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*Rafaels Sicht*

Gegen was zu Essen hatten Mikke und ich nach den letzten Stunden nichts einzuwenden. Der Song war so gut wie fertig. Es fehlte nur noch der nötige Feinschliff, wie Jukka jetzt sagen würde. Bei dem Gedanken musste ich grinsen. Ich rief nach Tapsi und ging zusammen mit Mikke hoch ins Wohnzimmer und machten es uns auf der großen Couch bequem. Tapsi zwischen uns und ließ sich von uns kraulen. Jukka kam mit Lilja Hand in Hand hinterher. War sie für ihn doch mehr, als nur eine Freundin, wie er sie uns vorgestellt hatte? Ich hoffte, es war nicht so. Ich zeigte auf den leeren Platz neben mir und hoffte, sie würde sich zu mir setzen. Ich würde sie gerne näher kennen lernen. Doch sie setzte sich auf den Sessel und wich meinem Blick aus. Hatte ich was falsch gemacht? Ihr schien kalt zu sein, denn sie zitterte leicht. Doch ihr Blick machte mir Sorgen. In ihren klaren blauen Augen spiegelte sich Angst? Konnte das sein? Angst vor mir? Oder machte ihr was anderes Angst? Sie starrte die ganze Zeit Jukka an und irgendwas schien nicht zu stimmen. Ich hätte sie gerne in den Arm genommen, doch irgendwas hielt mich davon ab.

"Jukka?" fragte ich leise und nachdem er sich um gedreht hat, deutete ich Richtung Lilja. Sein Blick veränderte sich. Sein Glanz war verschwunden und die Pure Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er nahm sich die Decke, die über die Couch lag und deckte sie damit zu. Nun setzte er sich, schon fast vorsichtig, auf die Sessellehne. Er strich ihr sanft über den Kopf und redete leise und langsam mit ihr. Nach kurzer Zeit drehte sie den Kopf zu ihm und sah ihn einfach nur an, während er weiter redete. Nun drehte sie den Kopf in unsere Richtung und ich tat, als ob ich schwer mit Tapsi beschäftigt wäre und nichts mitbekommen hätte.

*Liljas Sicht*

Langsam wurde alles schwarz um mich herum und ich fühlte mich hilflos. So verdammt hilflos. Warum reagierte mein Körper nicht auf die Befehle, die ich ihm gab? Eigentlich war es doch ganz einfach. Lilja, höre auf zu zittern! Lilja, hab keine Angst! Lilja, steh auf und geh zu Jukka! Nimm deine angezogenen Beine von der Couch und gehe zu ihm. Nimm seine Hand und er wird wissen, was du brauchst. Das du ihn brauchst. Es ist ganz einfach. Doch es passierte nichts. So starrte ich weiter in die Leere.

"Lilja, ich bin hier. Komm zurück. Hab keine Angst." hörte ich mit einmal seine Stimme. Konnte es wirklich sein? Hat er mitbekommen, das ich seine Hilfe brauche? Das ich ihn brauche?

"Schau mich an, Lilja. Dreh den Kopf zu mir" flüsterte er weiter. Ich spürte seine Hand, die meinen Kopf streichelte. Spürte, das er neben mir saß. Das er mich wieder beschützte und mir die Angst nahm. Angst, woher sie auch kam, er vertrieb sie. Ich drehte langsam den Kopf in seine Richtung und schaute ihn an. Direkt in seine grünen Augen, die diese Ruhe ausstrahlten. Genau die Ruhe, die sich langsam wieder in mir ausbreitete und das zittern und die Panik beiseite schoben.

"Schön, das du wieder da bist." flüsterte er und lächelte mich warm an. Ich drehte mein Kopf zu Mikke und Rafael, die Tapsi streichelten. Hatten sie wirklich nichts mitbekommen? Konnte das sein? Ich hoffte es jedenfalls. Nun drehte Rafael den Kopf und bevor ich reagieren konnte, trafen sich unsere Blicke. In seinen Augen lag Besorgnis und doch so viel Wärme. Er hatte es also doch mitbekommen. Doch irgendwie war es mir nicht unangenehm. Ich hielt den Blick kurzzeitig stand, doch als er mir vorsichtig, ja beinahe zaghaft, zu lächelte, wendete ich meinen Blick ab und sah aus dem Fenster. Jukka blieb bei mir sitzen, rief beim Chinesen an und bestellte verschiedene Sachen für uns.

In der halben Stunde in der wir aufs Essen warteten, unterhielten sich die drei und lachten viel. Ich hörte zu und man merkte, das sie sich schon länger kannten und nicht nur Musik als gleiches Interesse hatten. Ich erfuhr ein paar Sachen über die Jungs. Sie nannten sich Wannalook und machten schon ein paar Jahre zusammen Musik. Waren aber noch recht unbekannt. Sie waren 22 und 23 Jahre alt und wohnten in Helsinki. Sind wir hier in Helsinki? Ich griff nach dem Ärmel von Jukka seinem grauen Wollpulli und zuppelte daran. Er schaute mich fragend an und ich genauso fragend zurück. Er verstand wohl, den er holte einen Block und Stift und ich schrieb genau diese Frage auf.

"Sind wir in Helsinki?" Er nahm den Stift und schrieb darunter

"Ja, sind wir. Ziemlich am Stadtrand und mein Haus liegt etwas versteckt im Wald. Es ist von der Strasse aus nicht zu sehen". Er hatte eine ziemliche Sauklaue, doch ich konnte es lesen. Ich nickte nur und versuchte mich wieder zu erinnern. War ich in Helsinki geboren? Lebte ich hier? Hab ich hier eine Wohnung? Hab ich hier gearbeitet? Familie? Freunde? Irgendwas. An irgendwas muss ich mich doch dran erinnern. Ich wollte wissen, wer ich war. Warum war ich hier? Warum bin ich durch den Wald geirrt? Wer hat mich so verletzt? Doch es blieb weiter hin schwarz. Nicht die kleinste Erinnerung kam auf. Mir war plötzlich kalt und somit zog ich die Decke bis zum Kinn. Jukka fiel dies auf, denn er machte den Kamin an und für uns alle heißen Kakao. Dankbar hielt ich die heiße Tasse in meinen Händen. Aus den Augenwinkeln vernahm ich, wie Rafael immer wieder verstohlen zu mir herüber sah. Nur kurz. Unauffällig. Doch lang genug, um das ich es merkte. Warum tat er dies? Wollte er, das ich mit ihm redete? Ihm erzählte, was eben los war? Oder wollte er etwa immer noch, das ich mich neben ihm setzte? Das geht nicht. Ich will nicht. Ich kann nicht. Ich zog die Decke noch ein Stückchen höher, trank den heißen Kakao und versuchte, meine Aufmerksamkeit auf Jukka zu lenken.

*Jukkas Sicht*

Ich blieb die ganze Zeit auf der Sessellehne neben Lilja sitzen. Stand nur einmal kurz auf, um den Kamin anzumachen und uns heißen Kakao zu holen. Nach dem kleinen Zwischenfall fing ich an zu grübeln. War es vielleicht doch keine so gute Idee, sie mit runter zu nehmen? War es zu früh? Zu unvorbereitet? Doch andererseits schien sie sich sonst wohl zu fühlen. Und ewig oben verstecken konnte sie sich doch auch nicht. Vielleicht tat es ihr ja auch gut? Sie hörte die ganze Zeit nur zu. Ab und zu huschte ein kleines, leichtes grinsen über ihre Lippen. Mir fiel auf, das Rafael sie verstohlen immer wieder betrachtete und schien mit seinen Gedanken weit weg. Ob er überlegte, was das eben war? Oder gefiel sie ihm? Das darf nicht sein. Das dürfte nicht passieren. Er dürfte sich nicht in sie verlieben. Ich musste mit ihm reden. Sie schien seine Blicke zu bemerken. Als es klingelte, wollte ich aufstehen, doch legte Lilja ihre Hand auf meinen Arm. Dies bemerkte Rafael und ein Schatten huschte über seinen Blick. Ok, ich musste dringend mit ihm reden. Ich drückte Mikke das Geld in die Hand und er nahm das Essen entgegen. Ich rutschte von der Lehne runter, setzte mich direkt vor dem Sessel auf den Boden und ließ mir das Essen schmecken. Das Essen verlief hauptsächlich schweigend. Nach dem Essen schnappte ich mir Tapsi, Mikke und Rafa und gingen nach draussen zum rauchen, während Tapsi zufrieden ihren Bedürfnissen nach ging.

"Wir sollten auch bald los. Muss morgen wieder früh raus" meinte Mikke zu Rafael, nachdem er einen Blick auf seine Uhr warf.

"Ich geh noch eben ins Bad, dann können wir los" war Rafael seine Antwort darauf. Somit ging er ins Bad, ich rubbelte Tapsi mit einem Handtuch halbwegs trocken und ging mit ihr und Mikke wieder ins Wohnzimmer.

Lost Memories (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt