Teil 31

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*Jukkas Sicht*

Ich klärte mit Samu noch ein paar Sachen und legte dann auf. Ich war froh, das er wegen Lilja nicht weiter nachgefragt hat. Hätte gar nicht so genau gewusst, was ich ihm sagen soll. Wie ich ihm das sagen soll. Er kam in den nächsten Tagen vorbei, wenn ich wieder gesund war. Hatten noch etwas Arbeit im Studio und er hatte ein paar neue Ideen. Ich drehte mich wieder zu Lilja um und sah, das sie ihn immer noch streichelte, während sie ihn gedankenverloren betrachtete. Nun hatte sie bemerkt, was sie da tat und sie hörte trotzdem nicht auf? Gefiel es ihr? Genoss sie es? Machte es ihr keine Angst? Und Rafa? Er hatte seine Augen immer noch geschlossen, doch glaubte ich nicht mehr daran, das er noch schlief.

"Lilja?" fragte ich leise. Sie hob den Kopf und sah mich fragend an.

"Ich könnte frische Luft gebrauchen und Tapsi etwas Auslauf. Kommst du mit raus und leistest mir Gesellschaft?" fragte ich weiter und zog mir schon was warmes an. Sie nickte und rutschte vorsichtig unter Rafas Umarmung raus. Dieser grummelte etwas unverständliches und zog die Decke übern Kopf. Schlief er doch noch? Lilja verschwand in ihr Zimmer und ich ging mit Tapsi zur Haustür. Dort wartete ich auf Lilja. Ob sie es heute schafft? Es war gefährlich, was ich hier tat. Musste ich doch an das letzte mal denken. Doch sie hatte ohne weiteres zugestimmt. War sie schon so weit? Konnte sie ein paar Schritte alleine raus gehen? Ich hoffte es so sehr. Wollte ich doch nicht, das sie wieder abdriftete und leidet. Doch ich würde an ihrer Seite sein. Würde, wie versprochen, auf sie aufpassen und beschützen. Sie bei jedem Schritt begleiten und sie wieder auffangen. Ich schaute zur Treppe hoch und da kam sie auch schon runter. Zögerlich lächelte sie unsicher. Ich lächelte aufmunternd zurück und hielt ihr meine Hand entgegen. Diese ergriff sie, ohne zu zögern und hielt sie fest.

"Bereit, mein Vorgarten zu erobern?" fragte ich und versuchte zu grinsen. Sie atmete einmal tief ein und aus und nickte zaghaft.

*Liljas Sicht*

Ich ging in mein Zimmer und hier wurde mir erst richtig bewusst, was Jukka mich eben gefragt hatte. Ich sollte raus gehen... Das, was beim letzten mal schon schief gegangen ist, auch wenn ich dort draussen gelaufen bin. War ich wirklich schon so weit? Konnte ich es nochmal riskieren? Oder würde ich wieder weg driften? Weg, in eine Welt, in die ich nicht mehr wollte. Die mir mit ihrer Dunkelheit die Luft zum atmen abschnürte und mich trotzdem dort fesselte, mit dieser leere im Kopf und der Leichtigkeit in meinem Körper... Wusste Jukka, was er damit auslöst? Was er damit anrichtet? Er würde doch bei mir bleiben, oder? Ich zog mich langsam an und wurde immer unruhiger. Spürte, wie die Nervosität sich ihren Weg durch meinen Körper suchte. Ich zog mir die viel zu große Jacke über und ging langsam die Treppe runter. Dort sah ich Jukka in der geöffneten Haustür stehen. Er sah zu mir hoch und ich versuchte meine Konzentration auf seine Augen zu lenken. Zögerlich versuchte ich zu lächeln. Aufmunternd lächelte er zurück und streckte mir seine Hand entgegen. Diese ergriff ich sofort und hielt sie so fest, wie ich konnte.

"Bereit, meinen Vorgarten zu erobern?" fragte er mich und grinste dabei leicht. Bereit? War ich das? Ich wusste es nicht. Doch ich wusste, ich wollte es versuchen. Ich musste es versuchen. Mit ihm an meiner Seite. Er würde mich auffangen, wenn ich fiel und wieder zurück holen, wenn ich mich in meinen Kopf zurück zog. Gerne hätte ich den Kopf geschüttelt. Doch ich holte tief Luft und nickte leicht.

"Wir schaffen das. Lass dir Zeit" flüsterte er und machte einen kleinen Schritt über die Türschwelle Richtung Veranda. Ich hielt seine Hand so fest, wie nur irgendwie möglich und machte ebenfalls einen kleinen Schritt. Einen Schritt über diese Türschwelle. Einen Schritt nach draussen. Raus, aus diesem schützenden Haus und da spürte ich es schon. Dieses leichte, feine Kribbeln, das meine Wirbelsäule entlang kroch und meinen Puls, der sich augenblicklich verdreifacht.

Ich versuchte dagegen anzukämpfen. Es unter Kontrolle zu bekommen. Doch irgendwie klappte es nicht. Egal, was ich versuchte. Ich wollte das nicht. Es sollte aufhören. Es sollte weg gehen. Doch es hörte nicht auf mich. Langsam suchte sich das kribbeln den Weg Richtung meinen Nacken. Ließ meine Beine leicht zittern und ich war kurz davor, nach zu geben. Mich darauf einzulassen und meine guten Vorsätze zu vergessen. Kostete es doch so viel Kraft. Kraft, dagegen anzukämpfen.

"Lilja. Schau mich an. Ich bin hier. Ich halte dich fest. Bleib bei mir" hörte ich Jukkas Stimme. Es klang, als ob er seit weg wäre. Dabei stand er genau vor mir. Ich konzentrierte mich darauf, meinen Kopf leicht zu heben. Ihm in die Augen zu schauen. In diese grünen Augen, die mir schon so oft geholfen haben. Lauschte seiner Stimme. Die, die mich immer wieder zurück holte. Egal, wo ich war. Er sollte nicht aufhören zu reden. Er dürfte damit nicht aufhören. Jukka, hörst du? Rede weiter. Rede mit mir, schrie es in meinem Kopf. Ich sammelte alle Kräfte und brachte mit mühe und Not

"Rede...wei...ter" heraus. Es war mehr ein krächzen als reden, leiser noch als flüstern. Doch es reichte aus. Jukka hatte es verstanden und ohne zu zögern, fing er an zu reden, während er meine Hand festhielt und mich weiterhin ansah.

"Sobald es im Frühjahr wieder wärmer wird, kommt hier auf der linken Seite wieder die Hollywoodschaukel hin. Nicht's ist entspannender, als dort den Abend ausklingen zu lassen. Mal abgesehen, von einem Saunagang natürlich. Auf der anderen Seite kommen dann Tische und Stühle hin. Ein Teil der Pflanzen aus dem Wintergarten kommt dann auch wieder auf die Veranda." erzählte er ohne Unterbrechung. Erzählte weiter, wo welche Pflanzen im Frühjahr hinkommen. Wie toll alles aussieht, wenn es blüht. Das er absolut keinen grünen Daumen hat und seine Mama soweit alles vorbereitet, das er nur noch gießen brauchte. Ich saugte jedes einzelne Wort in mir auf. Als wenn es die letzten wären, die ich je zu hören bekommen würde.

Ich merkte nicht, das Jukka, langsam, Schritt für Schritt weiter ging. Merkte nicht, das ich ihm, wenn auch zögerlich, folgte. Ein Schritt nach dem anderen. Hinaus, in seinen weißen Vorgarten. Weg vom Haus. Weg von der Veranda. Ich konzentrierte mich nur auf seine Stimme. Auf die Worte, die seinen Mund verließen. Und ganz langsam ließ das zittern in den Beinen nach. Mein Puls normalisierte sich ganz allmählich wieder. Nur das kribbeln hielt noch an. Doch ich kämpfte. Mit Jukkas Hilfe kämpfte ich mich daraus. Ich war nicht komplett weg gewesen. Ich war kurz davor. Ich wäre fast wieder weggeknickt. Ich wollte wieder aufgeben, doch Jukka ließ das nicht zu. Behielt mich mit seiner Stimme hier. Hier in der Wirklichkeit. Wo ich bleiben wollte. Wo ich hingehörte. Wo ich nicht weg wollte. Nun verkroch sich auch endlich das kribbeln wieder dahin, wo es her kam.

"Da bist du ja wieder" lächelte er mich an" Irgendwas war diesmal anders, oder?". Ich nickte schwach. Ein lächeln gelang mir nicht.

"Schreibst du es mir nachher auf? Vielleicht hilft es uns für das nächste mal" fragte er leise und wieder nickte ich nur. Ich wollte nicht, das es ein nächstes mal gibt. Ich wollte nicht, das er davor Angst haben muss. Das es jederzeit wieder passieren könnte. Doch ich kann es nicht kontrollieren. Es kommt so schnell. Überrennt mich förmlich.

"Magst du dich einmal umschauen?" fragte er vorsichtig und leise. Umschauen? Warum? Ich senkte den Blick von seinen Augen und ließ mein Blick einmal, sehr langsam, im Kreis wandern. Wir standen mitten in seinem Vorgarten. Auf der einen Seite das Tor, auf der anderen Seite die Haustür. Und wir genau mitten drin.

"Du bist Schritt für Schritt mit mir mitgekommen" lächelte er mich stolz an. Und nun musste auch ich kurz lächeln. Zwar wieder nur ein kleines Stück. Wieder nur mit Hilfe. Wieder mehr abwesend, als anwesend. Aber ich habs wieder geschafft. Irgendwie.

Lost Memories (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt