Teil 19

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*Rafaels Sicht*

Und wieder starrte ich auf die Uhr. Wie in den letzten fast 24 Stunden ständig. Immer wieder. Und die Zeit schlich in Zeitlupe vorbei. Hatte es kein bisschen eilig. Fast 21:00Uhr. Würde sie sich melden? Würde sie mir schreiben? Oder gar anrufen, wenn ihr Hals besser war? Ich konnte mich nicht wirklich konzentrieren. War den ganzen Tag mit meinen Gedanken woanders. Bei ihr. Dachte die ganze Zeit an ihre blauen Augen. An diese Augen, die soviel Angst ausstrahlten. Woher kam ihre Angst? Galt diese mir? Oder Männer im allgemeinen? Doch vor Jukka hatte sie ja auch keine Angst? Wieder schaute ich auf die Uhr und die Hoffnung schwindet langsam. Ich schob meine Bücher beiseite. Konnte mich eh nicht konzentrieren. Ich wollte sie kennen lernen. Unbedingt. Wollte wissen, was ihr Geheimnis ist. Ob sie vor mir Angst hatte. Ob sie mich auch kennen lernen möchte. Musste sie auch an mich denken? Wenigstens ab und zu? Oder hatte sie mich schon vergessen, als die Haustür hinter mir ins Schloss fiel? Hatte sie den Zettel überhaupt gelesen? Oder einfach weggeschmissen? Ich hielt diese Ungewissheit kaum aus. Keine Sekunde ging sie mir aus den Gedanken. Ich stand auf. Lief unruhig in meiner Wohnung auf und ab. Die ganze Zeit sah ich ihr schmales, wunderschönes Gesicht vor mir. Ich ließ mich auf die Couch fallen und machte den Fernseher an. Schaltete die ganze Zeit von einem Sender zum nächsten. Und wieder der Blick zu Uhr. 21:04Uhr. Mein Handy hielt ich fest mit der Hand umklammert. Damit ich es auch wirklich mitbekam, wenn es klingelte. Was hat dieses Mädchen nur mit mir gemacht?

*Liljas Sicht*

Ich nahm den Zettel und faltete ihn langsam auseinander. Irgendwie schlug mein Herz leicht schneller. War ich aufgeregt? Wegen einem blöden Zettel? Ich knüllte doch nur den Zettel auseinander. Wer weiß, was da drin stand. Es könnte auch etwas gemeines sein. Plötzlich verließ mich der Mut und ich legte ihn wieder auf den Nachttisch. Nein. Ich wollte es nicht wissen. Auf keinen Fall. Ich legte mich wieder hin, kraulte Tapsi durch ihr weiches Fell, die sich sofort wieder an mich gekuschelt hat. Aber vielleicht war es doch nichts gemeines, was da drin stand? Er hatte irgendwie nichts böses an sich, so weit ich das nach den paar Stunden beurteilen konnte. Seine Gesichtszüge wirkten so sanft, aber das konnte auch täuschen. Aber Tapsi schien ihm zu vertrauen. Ist sie doch gleich hin zu ihm und hat ihn begrüßt. Hat ihm Wohnzimmer mit ihm gekuschelt. Und sie musste es doch wissen, oder? Spüren Hunde es nicht, wenn jemand etwas böses im Schilde führt? Ich wusste es nicht. Doch ich wusste, ich würde es bereuen, wenn ich den Zettel ungelesen, wegschmeißen würde. Würde dann nie erfahren, was darauf geschrieben stand. Und das wollte ich dann auch nicht. Meine Neugier bekam wieder die Oberhand und schob die Angst erstmal bei seite. Ich setzte mich wieder auf und schaltete das kleine Nachtlicht an. Der Zettel schien praktisch auf mich zu warten. "Les mich! Les mich!" schien er mir zu zu rufen. Ich atmete noch einmal tief durch, nahm den Zettel und faltete diesen langsam auseinander. Ich spürte, wie der Mut mich wieder verließ, doch ich hielt tapfer durch. Nun hatte ich den auseinander gefalteten Zettel in meiner Hand. Sehr schöne Handschrift, schoß es mir durch den Kopf. Ich ließ mir die Nachricht immer wieder durch....

*Liljas Sicht*

"Hallo Lilja. Wenn du mal jemand anderen um dich haben oder reden möchtest, kannst du mich anrufen oder mir schreiben. Ich bin gerne für dich da. Liebe Grüße, Rafa" und da drunter eine Nummer.


Immer und immer wieder las ich mir den kurzen Text durch und hatte nur einen Gedanken. Warum ich? Ich wurde nicht schlau daraus. Sollte ich ihm schreiben? Was sollte ich ihm schreiben? Was wollte er von mir? Ich konnte mir beim besten willen nicht vorstellen, warum jemand für mich da sein sollte. Ok, Jukka war auch für mich da. Aber bei Jukka war es irgendwie was anderes. Er hatte mir schließlich das Leben gerettet. Warum wollte mich jemand kennen lernen? Ausgerechnet mich? Ich kannte mich ja selber nicht. Was sollte ich ihm da schreiben? Ich wusste ja nicht mal meinen richtigen Namen. Ich wusste gar nichts von mir. Ich zerknüllte den Zettel und stopfte ihn unters Kopfkissen. Anschließend legte ich mich hin und konzentrierte mich darauf, Rafael und diesen Zettel zu vergessen.

Versuchte stattdessen, mich an irgendetwas zu erinnern. Was aß ich gerne? Was war meine Lieblingsfarbe? Welche Musik hörte ich gerne? Hörte ich überhaupt gerne Musik? Was zog ich gerne an? Machte ich Sport? Was mache ich in meiner Freizeit gerne? Lesen? Oder doch lieber Party? Mochte ich Fernseh schauen? Spielte ich ein Musikinstrument? Hatte ich Arbeit? Hab ich studiert? Welche Jahreszeit gefiel mir am besten? Ich grübelte und grübelte. Kramte tief in meinem Kopf. Doch blieb es weiterhin alles schwarz und neblig in diesem. Ich spürte etwas nasses an meine Wangen runter laufen. Ich wischte die Tränen weg, schloss die Augen und fiel, immer noch weinend, erschöpft, in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Ich wurde von den sanften Sonnenstrahlen geweckt, die schwach ins Zimmer schienen. Nachdem ich meinen Augen geöffnet hatte, schaute ich aus dem Fenster. Die dicken Schneewolken hatten sich anscheinend verzogen. Das erste mal, seit ich hier war, schien die Sonne und ich lächelte schwach. Seit 11 Tagen war ich jetzt hier und es kam mir viel länger vor. Wie eine kleine Ewigkeit. So vertraut und sicher. Klar, ich kannte ja auch nichts anderes. Ich nahm all meinen Mut zusammen, holte den Brief unterm Kopfkissen hervor und speicherte Rafaels Nummer in das Handy ein.

Ich tippte das Wort "Warum" ins Handy und schickte die SMS sofort an Rafael ab, bevor ich es mir wieder anders überlegen konnte. Ich legte es wieder aufs Nachttisch, den Brief unters Kopfkissen und stellte mich unter die Dusche. Frisch geduscht und etwas zurecht gemacht, fing mein Magen an, sich zu melden. Sollte ich es wieder wagen? So schlimm war es ja eigentlich gar nicht. Ich beschloss, heute mutig zu bleiben, winkte Tapsi herbei und machte mich mit ihr auf den Weg nach unten. Es war noch alles zu und durch die geschlossenen Vorhänge ziemlich dunkel. Dann schien Jukka noch zu schlafen. Ich öffnete die Vorhänge, während Tapsi vor der Eingangstür stand und wimmerte. Ich schloss auf, öffnete die Tür, ließ Tapsi raus und schloss diese wieder.

Alleine wollte ich nicht raus. So weit reichte mein Mut doch noch nicht. Ich schaute aus dem Fenster neben der Tür und wartete darauf, das Tapsi fertig war. Es dauerte nicht lange, da stand sie wieder vor der Tür und ich ließ sie rein. Überall hingen Schneeklumpen in ihrem Fell. Lächelnd nahm ich das Handtuch, das an den Kleiderhaken hing und rubbelte sie etwas trocken, während sie freudig mit dem Schwanz wedelte. Kaum war sie fertig, rannte sie in die Küche, ich lief hinter her. Dort saß sie vor ihrem Futternapf und sah mich an. Ich schaute mich suchend nach ihrem Futter um, als sie an einer Schranktür kratzte. Ich nahm das Futter raus, gab ihr was und suchte Sachen für ein Frühstück zusammen.


Lost Memories (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt