Teil 38

45 4 0
                                    

*Jukkas Sicht*

Ich ließ Rafa, beziehungsweise seinen Brustkorb, keine Sekunde aus den Augen und betete einfach nur. Das er durchhielt. Das er bei uns blieb. Das er keine allzu großen Schmerzen hat.

"Habt ihr sie gefunden?" wurde durch's Haus gebrüllt.

"Nein, als hätte sie der Erdboden verschluckt und draussen war auch nicht's zu finden. Auch keine Fußabdrücke".

"Verfluchte Scheisse. Das gibt's doch nicht. Dieses kleine Miststück denkt wohl, das sie mich an der Nase herumführen kann. Doch da hat sie sich gewaltig geschnitten. Nicht mit mir."

"Was hast vor?"

"Wollen wir doch mal schauen, wie viel ihr die beiden Idioten hier bedeuten" erwiderte er und lachte laut und dreckig auf. Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Egal, was sie machen. Egal, was sie tun, Lilja darf nicht raus kommen. Er kam immer näher und grinste mich dreckig an.

"SAARA... Meine schöne Saara, ich hab dich so sehr vermisst. Kommst du her, damit wir uns unterhalten können? Ich verspreche dir, das ich euch nichts tun werde..." rief er durchs Haus. Saara... War das ihr richtiger Name? Oh bitte, fall nicht auf ihn herein. Bitte nicht. Bleib, wo du bist. Egal, was er macht oder sagt, komm nicht raus. Er stand nun direkt vor mir und sah mich bedrohlich an. Tapsi ihr knurren ignorierte er konsequent.

"Wenn sie in 5 Minuten nicht hier ist, machen wir zwei uns eine schöne Zeit. Was hälst davon?" fragte er mich und bei seinem Gesichtsausdruck wurde mir schlecht. Was hatte er nur vor...

Ich hörte das ticken von der Wanduhr. Sekunde für Sekunde tickte sie vor sich hin. Nichtsahnend, was nach einer bestimmten Zeit passieren könnte. Nichtsahnend, was passieren könnte, wenn Lilja hochkommen würde. Tick. Tick. Tick. Quälend langsam verging die Zeit. Jede Sekunde fühlte sich wie eine Stunde an. Tick. Tick. Tick. Dieses Geräusch brannte sich tief in mein Gehirn ein. Alles in mir zog sich zusammen. Versuchte sich darauf vorzubereiten, was gleich passieren wird. Das Geräusch eines Feuerzeugs holte mich wieder in die Realität zurück. Genüsslich zog er an seiner Zigarette und bließ mir den Qualm ins Gesicht.

"Die Zeit ist um und meine schöne hat sich leider nicht blicken lassen. Ich glaub, ich möchte mit euch beiden spielen. Wäre doch schade, wenn sich das Babyface nachher vernachlässigt fühlt" flüsterte er gefährlich tief. Panisch sah ich zu Rafa, der immer noch bewusstlos und flachatmend da lag. Irgendwie musste ich verhindern, das er ihn anrührte. Doch wie sollte ich das anstellen? In dem Moment durchzog meine Handgelenke ein unsaglich brennender Schmerz.

"Ich liebe es, wenn sich das feine, scharfe Plastik von Kabelbinder in die Haut schneidet. Du auch?" fragte er mich, während er die Kabelbinder nochmal enger schnürte. Ich schrie vor Schmerzen auf. Konnte es nicht verhindern. Spürte, wie die warme Flüssigkeit an meinen Fingern nach unten lief.

"Einmal geht noch" lachte er auf und zog noch weiter zu. Scharf zog ich die Luft ein, versuchte es zu verhindern. Doch es ging nicht und ein weiterer Schrei verließ meine Kehle.

*Liljas Sicht*

Mir tat alles weh. Mir war so entsetzlich kalt. Ich hatte so schreckliche Angst. Und doch klammerte ich mich, mittlerweile schmerzlich, an den Stufen fest. Wohl bedacht, keine Geräusche von mir zu geben. Hatte ich doch versprochen, tapfer zu sein. Durchzuhalten. Doch es wurde immer schwerer. Spürte meine Finger kaum noch und auch meine Füsse waren schon schmerzlich eingefroren. Doch ich kämpfte. Kämpfte gegen die Übelkeit. Gegen die immer wieder aufkommende Angst. Gegen die Panik, die sich immer wieder leise in mich schlich. Und es verlangte mir alles ab. Ich spürte, wie die Kräfte mich langsam verließen und klammerte mich nur noch ängstlicher an den Stufen fest.

"SAARA... Meine schöne Saara, ich hab dich so sehr vermisst. Kommst du her, damit wir uns unterhalten können? Ich verspreche dir, das ich euch nichts tun werde..." hörte ich da jemand rufen. Saara? Meint er mich? War das mein Name? Doch auch da erinnerte ich mich an nicht's. Vermisst? War das mein Freund da oben? Oder ein Freund? Doch seine Stimme hatte so einen bedrohlichen Unterton. Jukka. Rafa. Ich hoffe so sehr, das es euch gut geht. Das sie euch nicht weh tun. Sollte ich auf ihn hören? Er meinte doch, das er uns dann nicht's tut. Konnte ich darauf vertrauen? Konnte ich dem Typen vertrauen? Vielleicht konnte er mir etwas über mich erzählen. Wer ich bin. Wo ich herkomm. Wo ich hingehöre. Sollte ich es wagen? Da hoch gehen? Dann würde ich vielleicht sehen, wie es Jukka und Rafa geht. Ganz langsam kletterte ich die erste Stufe runter. Zögerlich suchte ich mit dem Fuss die nächste Stufe und dann wieder die nächste. Tat ich wirklich das richtige? Ich vertraute meinem eigenen Gefühl gerade nicht. War die Angst um Jukka und Rafa doch einfach nur zu groß, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Doch half ich ihnen wirklich, wenn ich jetzt hoch ging? Hoch, zu diesem Mann mit dem bedrohlichen Unterton in seiner Stimme. Zu dem Mann, dessen Versprechen, uns nichts zu tun, nicht besonders überzeugend klang. Doch er schien mich zu kennen. Vielleicht wusste er mehr, als nur meinen Vornamen. Noch vier Stufen, dann hätte ich endlich wieder festen Boden unter den Füssen. Meiner Finger taten so schrecklich weh. Bei jeder Stufe knackte es irgendwo in meinem Körper. Mal in meinem Knie, mal im Rücken, im Nacken, im Knöchel. Wie lange war ich schon hier? Wie lange ist es her, das sie Rafa gefunden haben? Geht es ihm gut? Geht es Jukka gut? Ich machte mir so wahnsinnige Sorgen um die beiden, das ich den festen Entschluss fasste, hoch zu gehen. Ich musste sie sehen. Sehen, das es ihnen gut geht. Plötzlich ertönte ein Schrei durch die Mauern dieses Hauses. Ein Schrei, der mir durch Mark und Bein ging. Jukka. Oh nein. Was tun sie dir an? Hab ich zulange gezögert? Verzeiht mir. Ich kann da nicht hoch. Fest klammerte ich mich an die Stufen und mit meinen letzten Kräften kletterte ich wieder hoch. Langsam, Stufe für Stufe kämpfte ich mich wieder hoch. Spürte, wie sich das kribbeln an meiner Wirbelsäule hoch arbeitete. Und noch einmal schrie Jukka. Lauter und länger als eben.

"Jukka..." whisperte ich kaum hörbar und spürte die ersten Tränen, die sich ihren Weg über meine Wange suchten. Noch 3 Stufen, dann bin ich wieder oben. Das kribbeln wanderte immer weiter. Unaufhörlich suchte es seinen Weg. Ich hatte keine Kraft mehr, dagegen anzukämpfen. Fühlte, wie es langsam dunkel um mich herum wurde. So dunkel, das alles schwarz war. Und ich fiel. Fiel hinab, in die tiefe des Kaminschachts. Doch fühlte es sich wie fliegen an...

Lost Memories (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt