Kanalisationsgewölbe nahe der Buchner Nervenklinik
Unterwaagen, Aschland
09.11.2158, 10:32 Uhr, Shatterlands (Ehemaliges Deutschland)Der Vernarbte rannte auf das Licht zu so schnell ihn seine Beine trugen, der einzige Gedanke in seinem schmerzendem Schädel ein sich ständig wiederholendes: Ich muss raus! Raus! Raus! Raus!
Er hatte das Oval aus weißem Licht beinahe erreicht, als seine nackten Füße auf dem schlüpfrigen Boden ausglitten und er mit voller Wucht gegen eine pfeilergleiche Verstärkung in der Wand lief. Betonbrocken flogen davon, Staub erfüllte die Luft, doch der Vernarbte spürte den Aufprall kaum, taumelte unbeirrt weiter. Alles was zählte war, aus der Finsternis ans Licht zu kommen. Nur weg von diesem Ort. Nur weg. Er schüttelte vehement den Kopf, als die Erinnerung an das was er getan hatte, sich in seinen Geist schob. Einen Laut, irgendwo zwischen einem Schrei, einem Knurren und einem Wimmern entrang sich seiner Kehle. Er beschleunigte seinen Schritt.
Noch zehn Meter.
Fünf.
Zwei.
Der Vernarbte brach aus den Schatten ans Licht und kam schlitternd zum Stehen. Sein Atem, heiß und hektisch, bildete Wolken in der bitterkalten Luft. Schnee knirschte unter seinen Füßen, als er sich langsam umsah, die Augen weit und ungläubig. Alles was er sah wirkte falsch, fremd, feindselig. Was zur Hölle war das nur für ein Alptraum und warum konnte er nicht endlich aufwachen? Der uralte Abwasserkanal aus dem er gestürmt war ging nahtlos in einen vereisten Ablauf über, der sich zwischen hoch auftürmenden, armseligen Behausungen hindurch zog. Zu seiner Rechten erhoben sich zwei extrem verbeulte Schiffscontainer, die man übereinandergestapelt hatte und zu seiner Linken ruhte der reifenlose Anhänger eines überdachten LKWs wie ein gestrandeter Wal im dreckigen Schnee.
Was geht hier vor sich? Was verdammt noch mal geht hier vor sich?
Er taumelte vorwärts, sah sich gehetzt um. Aus Wellblech und allerlei Gerümpel gefertigte Schuppen wucherten Tumoren gleich an den robusteren Behausungen. Dreckiger Schnee bedeckte alles wie ein Leichentuch. War dies eine Art Slum? Ein Schrottplatz? Beides? Sein vernarbter Brustkorb hob und senkte sich rapide, da sich Herz und Atem einfach nicht beruhigen wollten. Es war offensichtlich, dass niemand mehr hier lebte. Es war einfach zu still.
Geisterhaft still.
Er machte einen unbewussten Schritt zurück in Richtung des Abwasserkanals, bevor er innehielt und am ganzen Körper bebend in die Dunkelheit starrte. Nichts würde ihn in dieses verfluchte Loch zurückbringen. Nichts. Stattdessen hob er seinen Blick zum Himmel in einem unbewussten Verlangen etwas Vertrautes zu sehen – und erstarrte.
„Verdammte ..."
Er blinzelte in schierem Unglauben, doch das Bild, das sich ihm zeigte, war immer das gleiche: Schwarze Wolken, durch die sich Schlieren aus krankhaftem gelb, violett und blau zogen, fast wie die Farbrückstände in einem chemisch verseuchten Fluss. Etwas, das wie eine Mischung aus irrem Lachen und Schluchzten klang, blubberte über seinen Lippen. Selbst der Himmel sah aus, als hätte ihn jemand zu Tode geprügelt, so dass er jetzt korrumpierten Schnee blutete, grau und vermutlich bitter wie die Hoffnungslosigkeit selbst. Auf einen Impuls hin öffnete er den Mund und eine Flocke landete auf seiner Zunge.
Er verzog das Gesicht und spuckte aus. Kein Schnee, sondern Asche. Verdammte Asche.
Er lachte – ein keuchender Laut, bar jeglicher Freude oder geistiger Gesundheit – und taumelte auf die armseligen Schuppen und einen Pfad dazwischen zu. Ein wahrer Irrgarten breitete sich vor ihm aus. Alle Behausungen verlassen, leblos, leer. Es war fast, als würde man durch eine von der Zeit und Welt vergessene Nekropole aus Schrott wandern. Er hatte die Hoffnung Leben zu finden fast aufgegeben, als der Wind sich drehte und ihm etwas zutrug: Stimmen, das Aufheulen irgendeiner Maschine, etwas, das Klang wie eine Schiffsirene ...
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ARCHETYPE 3.0
Science Fiction★Dritter und letzter Teil der WATTYS 2018 "Die Wortschmiede" Gewinner Story★ Liebe. Chaos. Zorn. Waagen, das große Mekka der Monster, ist in Aufruhr. Noch immer liegt der Rauch des Krieges über der Stadt, doch weiteres Unheil braut sich bereits zusa...