Weltenwanderer

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Freak Warren

Unterwaagen, Aschland

09.11.2158, 12:05 Uhr, Shatterlands (Ehemaliges Deutschland)


Das ist nicht real. Das kann einfach nicht real sein.

Es war dieser Gedanke, der dem Vernarbten mit fast jedem Schritt durch den Kopf hallte. Die Worte taten jedoch nichts, um die Realität um ihn herum zu ändern. Der Tunnel hatte ihn in eine kleine Hütte angefüllt mit allerlei Lumpen und Gerümpel geführt, jenseits welcher ein neuer Alptraum auf ihn gelauert hatte. Er schlang den dreckigen Umhang, den er gefunden hatte enger um die Schultern, zog die Kapuze tief ins Gesicht und machte sich so klein und unauffällig wie möglich. Mit wenig Erfolg. So ein Riesenkerl wie er fiel einfach auf, insbesondere da die meisten der jämmerlichen Gestalten dieses Slums mindestens einen Kopf kürzer waren. Wie erhofft, hatte er zwar Menschen und Leben gefunden, doch was für Menschen, was für Leben ...

Bei einigen Gestalten war er sich nicht einmal sicher, ob es Menschen waren. Verdammte Axt, der Erstbeste, zu dem er hilfesuchend gestolpert war, schien normal genug zu sein – bis die kleine, in Felle gehüllte Gestalt sich zu ihm umgedreht hatte. Ihr Gesicht war wie etwas gewesen, das ein dementes Kind aus Knetmasse geformt hatte. Drei Augen hatten ihn angestarrt, eines davon in Höhe der Wange, das dritte auf der Stirn ein ständig tränender Orb, der eher zu einem Tintenfisch gepasst hätte. Und der Mund ... nichts weiter als ein vertikaler Schlitz voll mit spitzen Zähnen. Es war genau die Art Gesicht, die einen kreischend aus Alpträumen erwachen ließ und es wäre nur vernünftig gewesen, schreiend davonzulaufen. Doch was hatte er um ein Haar getan?

Die Kreatur getötet.

Seine Hände hatten sich von ganz alleine nach dem Hals des Wesens ausgestreckt, bereit ihm mit einer schnellen Drehung den Hals zu brechen. Er hätte es auch getan, wenn nicht für die Angst in den Augen der Kreatur. Angst vor ihm. Die Gestalt hatte sich keinen Moment zu früh zu Boden geworfen, um in einem Gossendialekt aus diversen Sprachen – die er aus irgendeinem bestürzenden Grund verstand – immer wieder zu kreischen: „Nicht wehtun! Nicht wehtun, bitte!"

Jeder Slum-Bewohner in der Nähe hatte sich ihm zugedreht und ihn angegafft, die von Krankheit und Mutation gezeichneten Fratzen voll von Angst. Er war gerannt, bevor er wusste wie ihm geschah. Nur weg von diesem Ort, diesen Dingern und den mörderischen Instinkten, die ihn einmal mehr zu übermannen drohten. Nun irrte er auf den verschlungenen Pfaden des Slums umher wie einst Theseus im Labyrinth des Minotaurus. Die Frage war nur: War er Theseus oder der Minotaurus? Und wieso wusste er, was es mit dieser alten Legende auf sich hatte, konnte sich aber nicht einmal an seinen eigenen Namen erinnern?

Die Erklärung schien auf der Hand zu liegen ...

„Nicht real", murmelte der Vernarbte. „Das alles ... das kann einfach nicht real sein."

Doch was war es dann? Ein Alptraum? Wahnvorstellungen?

Der Gedanke ließ ihn kichern und er wäre wohl gänzlich in irres Gelächter ausgebrochen, wenn nicht die Angst gewesen wäre, dass er nicht mehr damit aufhören könnte. Er schlang seinen Umhang fester um sich und schlurfte weiter, zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht im Verlangen, so wenig von der Welt zu sehen wie möglich. Der analytische Teil seiner selbst erkannte dies als Schutzmechanismus. Es war jedoch genau dieser Teil, der ihn immer wieder zwang sich umzusehen, ständig auf der Suche nach Gefahren. Oder war es etwas anderes, das er suchte?

Beute ... Nahrung ...

Die Worte hallten im Einklang mit schmerzhaften Hungerkrämpfen durch seinen Schädel. Hunger ... Wie konnte man in so einer Lage nur an Essen denken? Der Vernarbte stieß ein keuchendes Lachen aus, welches ihn an das Zischen von Säure auf Fleisch erinnerte. Er schluckte schwer. Woher weiß ich wie so etwas klingt? Eines war klar: Er brauchte Hilfe, doch wo in diesem Meer aus Wahnsinn sollte er diese finden?

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