Gaut atmete langsam ein, dann wieder aus. Ein und aus. Ein ... und aus. Patientia. Geduld ... Sie war nur eine seiner vielen Tugenden und umso wichtiger in diesem Augenblick, da sein Herz hämmerte, da seine Seele sich in Flammen wand und sein Blick das Ausmaß der Schändung seines Refugiums begutachtete. Geringere Männer als er würden vermutlich Schreien und Toben. Nicht jedoch Fürchtegott Gaut! Nein, nicht er.
Zweifelsohne wirkte er entspannt, wie er so in seinem Stuhl saß: Ellenbogen auf dem heiligen Stein des Altars, Fingerspitzen aneinandergelegt, sein Gesicht die Personifizierung christlicher Grimmigkeit. Nachdenklich? Sicherlich. Besonnen? Natürlich. Das Inbild des weisen Anführers, den nichts aus der Ruhe bringen konnte, eines aus Stahl gegossenen Heiligen.
Bruder Demetrius hingegen zappelte und zuckte an seiner Seite wie ein schlecht erzogener Hund, wobei das meiste Zucken – oder wohl eher Pulsieren – von der Seite seines Schädels kam. Stahlplatten wären ohne Zweifel praktischer gewesen als ein Gitterkonstrukt, jedoch bei weitem nicht so ... zweckdienlich. Eine solche Verletzung zu überleben, sie täglich zu erdulden, war eine Heldentat – sie jedoch zur Schau zu stellen, war ein Werkzeug. Mehr noch, sie war eine Waffe im Kampf um die Ehrfurcht und den Respekt der ungewaschenen Massen.
Reputation. Ansehen. Glaube. Letztendlich drehte sich alles immer darum.
Sie beide musterten die erneut geschlossenen Eichenholztüren und lauschten. Bethlehems und Sattlers schwere Schritte waren noch immer von der anderen Seite zu hören, entfernten sich nur langsam. Besser zu warten, bis sie gänzlich verklungen waren, besser sicher zu gehen, doch wie es schien, war die Geduld seines Magus Rhetoricus am Ende.
Silberzunge trat vor und beugte sich zu Gaut herab. Nah, zu nah. Sein feuchter Atem glitt über das Gesicht des Vikars und das gute Auge des Magus Rhetoricus glänzte mit Zorn. Ira, die der schlimmsten aller Todsünden. „Eure Exzellenz, wir müssen diesem dreckigen—"
Gaut ergriff einen seiner Kettenhandschuhe vom Altar und schmetterte ihn in Silberzunges Gesicht. Der Kopf seines Magus Rhetoricus flog zur Seite und er taumelte zurück. In seinem Schock lies er sogar die Überreste dieses widerwärtigen Verräters Benedikt Braun zu Boden fallen. Muskeln zuckten an Gauts Wangen, an seinen Schläfen. Er sprang auf und hob seinen Stiefel. „Judas!"
„Eure Exzellenz", kreischte Silberzunge, seine Stimme schrill mit Entsetzen. „Ich flehe euch—" Gauts Stiefelabsatz fuhr herab wie der Zorn Gottes – ein-, zwei-, dreimal – zermalmte, was von Benedikts Gesicht noch übrig war.
„Neeeiiin!" Demetrius fiel auf die Knie, sein Zorn verraucht, sein Gesicht eine Maske des Grauens.
„Schweigt, elender Wurm!"
Gauts Stimme war wie die Stimme Gottes. Sie donnerte durch die alte Kapelle, wurde von den Wänden zurückgeworfen, prügelte auf Silberzunge ein. Wieder und wieder hob sich sein Stiefel und senkte sich auf die Fratze des Verräters. Jeder Tritt schmerzte seine Seele, beschädigte den weißen Marmor vielleicht unwiderruflich und brachte noch mehr Chaos in seinen Tempel der Ordnung. Doch ein guter Anführer, ein weißer Anführer, musste beizeiten auch Opfer für das Seelenheil seiner Untergebenen bringen. Humanitas. Wohlwollen. Als von Benedikt Brauns Gesicht letztendlich nur noch ein blutiger Fleck übrig war, fuhr Gaut schwer atmend zu Silberzunge herum – und erstarrte.
Er blinzelte, traute seinen Augen nicht. Tränen?
Tränen glitzerten auf den schwarzen Wangen seines Magus Rhetoricus, seines Nachfolgers, seiner Linken Hand! Bevor er sich versah stand Gaut über Demetrius und prügelte auf ihn ein. Nicht, weil Gaut erschüttert, enttäuscht, angewidert oder gar zornig war. Oh nein, nicht er. Niemals. Zorn war eine Todsünde und würde keinesfalls seine Seele damit beschmutzen. Nein, er fand keinen Gefallen an dem was er tat, nicht er. Diese Schläge waren für das Heil von Demetrius unsterblicher Seele. Das war es. Nichts anderes.
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ARCHETYPE 3.0
Science Fiction★Dritter und letzter Teil der WATTYS 2018 "Die Wortschmiede" Gewinner Story★ Liebe. Chaos. Zorn. Waagen, das große Mekka der Monster, ist in Aufruhr. Noch immer liegt der Rauch des Krieges über der Stadt, doch weiteres Unheil braut sich bereits zusa...