Regrets

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Finsternis! Wo ist sie, wo verdammt nochmal ist sie?

Mittlerweile robbte Leonora in ihrer Verzweiflung auf allen vieren durch den dreckigen Schneematsch, suchte, fluchte und warf jedem, der sie auch nur komisch ansah einen vernichtenden Blick zu. Und da waren viele, die sie komisch ansahen. Wie hatte sie nur die verfluchte Injektionspistole verlieren können. Wie? War dieser Tag nicht bereits beschissen genug? Tief im Inneren wusste sie jedoch, wie und warum sie die Pistole verloren hatte.

Sie hatte gezögert.

Der Moment der Wahrheit war gekommen und sie hatte gezögert. Es war kein Problem gewesen sich an den Archetypen und seinen neuen Freund anzupirschen, sich in Position zu bringen, sein Verhängnis in der Hand, so gut wie unsichtbar im Gedränge der Massen. Alles was sie hätte tun müssen war ihn anzurempeln, den Abzug zu drücken und wieder in der Menge unterzutauchen. Vermutlich hätte er den kleinen Stich gar nicht bemerkt.

Vermutlich hatte er den kleinen Stich gar nicht bemerkt ...

Das war das schlimmste. Sie wusste es nicht, wusste nicht, ob sie ihn bereits getötet hatte, ob der Ouroboros-Virus sich bereits in ihm ausbreitete. Sie hatte die Injektionspistole in der Hand gehabt, entsichert und auf ihn gerichtet – als er plötzlich einen Schritt zurück machte. Es war als wäre sie in einen Baum gerannt. Katzenhafte Reflexe und panterhafte Agilität mochten schön und gut sein, doch sie nutzten einem einen Dreck, wenn man sich von dutzenden von Menschen und Mutanten umgeben fand. Sie hatte nicht einmal mehr ihre Hand senken können, hatte sich sogar fast das Handgelenk verstaucht, als jemand in sie rannte und ihr Arm dabei eingequetscht wurde. Wenigstens hatte der Vernarbte sich nicht zu ihr umgedreht und sie erkannt. Ein kleiner Segen...

„Wo zur Hölle bist du, du verdammtes Scheißteil?", fluchte Leonora. Tränen füllten ihre Augen. Tränen! Ihre Finger fuhren durch den dreckigen Schneematsch. Es war hoffnungslos. Sie sah auf, blinzelte, um ihre Sicht zu klären. Die Pistole war weg, die Pistole ...

... lag in den Händen eines jungen Mädchens, keine fünf Schritte von ihr entfernt.

Leonoras Mund sackte auf und die Augen der kleinen Opportunistin weiteten sich, als sich ihre Blicke durch den Wald aus Beinen trafen. Was hatte sie erwartet? Natürlich würde irgendjemand bemerken, dass sie etwas Wertvolles verloren hatte, wenn sie wie ein Schwein auf der Suche nach einem Trüffel im Dreck herumwühlte. Das Mädchen war vermutlich gerade mal zehn Jahre alt, jedoch mit doppelt so viel Lebensleid in den Zügen, hager und mit einer langen Narbe im Gesicht. Leonora lächelte unter ihrer Atemmaske und hoffte, dass sich dies auch in ihren Augen wiederspiegelte. Das Wichtigste war jetzt Ruhe zu bewahren. Unter keinen Umständen durfte sie die Kleine—

Das verdammte Gör drehte sich um und rannte!

„Verfickte Finsternis!" Leonora war auf den Beinen und in Bewegung noch bevor sie wusste wie ihr geschah. Sie war zwar schneller, aber das Mädchen war klein und flink, duckte und tauchte zwischen Passanten hindurch wie ein Hase auf der Flucht. Leonora schrie: „Bleib stehen! Bleib stehen, verdammt nochmal!"

Keine gute Idee. Diejenigen, die überraschte stehen blieben, behinderten sie nur, während das Mädchen ungehemmt weiterhechtete. Das schlimmste war, dass Leonora noch nicht einmal ihre wahre Geschwindigkeit einsetzen konnte. Sie war heute hunderten von Menschen und Mutanten begegnet, aber keinem einzigen Kind von Chimära, was mehr als genug Warnung war. Sich jetzt als eine Veränderte zu outen konnte nur Ärger bedeuten – und davon hatte sie schon mehr als genug. Also wich sie aus, tauchte, rannte und schupste, um voran zu kommen, blieb dem Mädchen damit geradeso auf den Fersen. Als das diebische Gör realisierte, dass sie Leonora nicht in der Menge abschütteln konnte, rannte sie stattdessen auf die Food-Trucks zu. Zweifellos um zwischen ihnen zu verschwinden.

ARCHETYPE 3.0Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt