Der Greif

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Thomas Sattler gaffte. Das alleine war schon etwas, das die Welt selten zu sehen bekam. Stoisch, das war wie man ihn sah; stoisch wie der eisgebackene Granit des Brockens, emotionslos wie der Winter. Er gehörte schlicht und einfach nicht zu der Art Mensch, die mit großen Augen – oder in seinem Fall Auge – und einem sperrangelweit offenem Mund herumstand, wie ein gottverdammter Tourist am ersten Tag in Waagen. Nein, gaffen gehörte definitiv nicht in Sattlers Repertoire, aber gaffen war genau das, was er gerade tat.

„Was zur Hölle..."

Die Worte hingen von seinen Lippen, taumelten dort einen Moment verzweifelt und fielen ins gähnende Schweigen. Dort auf den Trainingsmatten, schwitzend und in Kampfstellung und dieses lockere Kleiner-Junge-Grinsen auf dem Gesicht, dass ihn seit jeher bei allen so beliebt machte, stand der Greif. Der Herrscher von Waagen und sein einziger Freund ... mitten in einem Trainingsmatch mit einem der zähesten Mistkerle, die die Palastwache zu bieten hatte: Clay Irons, einer von Sattlers ehemaligen Roughnecks; zäh, zwanzig Jahre jünger und noch einmal halb so schwer wie der Greif.

Wie eine Vogelscheuche gegen einen Kampfhund auf Steroiden. Nuke-Shit, Egon, was denkst du was du hier machst?

Die gut zwei dutzend Palastwächter, die nach einer langen Nachtschicht voll Anspannung hierhergekommen waren um Dampf abzulassen, würden um diese Zeit normalerweise Gewichte stemmen oder auf Box-Säcke einprügeln. Jetzt saßen sie alle gebannt in einem Halbkreis um die hundert Jahre alten Bodenmatten mit ihrer Patina aus Schweiß und Blut. Ihre vernarbten Gesichter leuchteten mit einer geradezu kindlichen Freude, als sie den Worten ihres Herren lauschten.

„Um im Kampf zu gewinnen, Männer", keuchte der Greif, „ist es wichtig den Feind ... hinters Licht zu führen ... ihn zu verwirren", er täuschte eine linke Gerade an, „und ihn zu überraschen!" Seine Rechte schoss in einem Schwinger vor – und wurde umgehend von einem haarigen Unterarm dick wie ein abgehangener Schinken geblockt. Irons hielt sich auch nicht mit dem Konter zurück und hämmerte dem Grafen einen Hacken in den Bauch, der ihn gut zehn Zentimeter von den Beinen hob.

Ein Raunen ging durch die Menge, so als hätte jeder den Schlag am eigenen Leibe gespürt. Selbst Sattler konnte einen gepeinigten Gesichtsausdruck nicht vermeiden, etwas, das ihm in einem echten Match nie passiert wäre. Schwäche zu zeigen bedeutete schließlich nur neue Schmerzen in sein Leben einzuladen. Der Greif japste, taumelte, sah aus als würde er sich jeden Moment übergeben. Wenigstens setzte Irons nicht nach, gab ihm die Zeit sich zu erholen.

Was zur Hölle war in Egon gefahren? Hatte er sich mit irgendeiner neuen Droge zugedröhnt und beschlossen, dass es eine gute Idee war nach Jahren des Herumsitzens auf seinem knochigen Arsch gegen einen von Waagen zähesten Bastarden in den Ring zu steigen? Ein Teil von Sattler wollte bereits dazwischen gehen, wollte Irons zu Boden hämmern, den Greifen an den Schultern packen und ihn schütteln bis sein Gehirn wieder an der Rechten Stelle war. Nur dass er das nicht konnte. Nicht ohne den Greifen in den Augen seiner Soldaten zu entehren. Und was war ein Mann denn schon, wenn man ihm seine Ehre nahm? Besser tot zu sein. Weit besser.

Was Sattler enorm dabei half sich zurück zu halten war, dass der Greif ... nüchtern schien. Wunschdenken, vielleicht, aber sofern ihn sein Auge nicht trübte, hatte der Herrscher von Waagen gebadet und sich sogar rasiert. Sein zu einem Pferdeschwanz gebundenes graues Haar schlug ihm immer wieder ins Gesicht, als er nach Atem rang. Er trug sogar diesen bescheuerten ärmelfreien Karateanzug mit der Schlange und der Aufschrift Cobra-Kai.

Sattler schnaubte. Ärmelfrei, mit derartig jämmerlichen Ärmchen.

Dennoch schob Hoffnung ihr Haupt wie eine Blume durch die Asche, doch noch traute Sattler ihr nicht und platzierte einen mentalen Stiefelabsatz über der unvertrauten Gefühlsregung, bereit zu zutreten.

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