„Benedikt!"
Der Vernarbte biss auf den Namen, als er das Gesicht des Sprechers sah. Es war nicht Benedikt. Der Kerl hatte keine Ähnlichkeit mit der Gestalt aus seiner Erinnerung, nicht einmal die Hautfarbe stimmte. Dieser Mann war so dunkelhäutig, dass seine Haut fast schwarz schien und das Kreuz auf seiner onyxfarbenen Rüstung leuchtete blutrot, nicht weiß. Irgendetwas stimmte auch nicht mit seinem Kopf. Die linke Seite schien seltsam ... klumpig. Sah er da wirklich ein silbern glänzendes Gittergeflecht, das sich von seiner Schläfe bis zum kahlgeschorenen Hinterkopf zog? Nein, das hier war nicht Benedikt, aber dennoch kannte er den Mann, doch woher? Woher?
Als hätte er sie heraufbeschworen, erhob sich eine weitere Erinnerung aus dem sumpfigen Morast seines Unterbewusstseins, doch diesmal war der Vernarbte bereit, diesmal war er Herr und nicht Opfer ...
Wahrlich, dies ist die beste Art von Nacht, die man sich für dunkle Arbeit wünschen konnte. Perfekt um den Göttern des Abgrunds ein Opfer darzubringen und damit Hel glücklich zu machen. Wer weiß, vielleicht wird sie zum Dank einmal mehr in ihre privaten Gemächer für weitere Stunden der Sinnlichkeit einladen? Ein Lächeln breitet sich auf meinen Zügen und eine angenehme Schwellung in meiner Hose aus. Für so eine Gelegenheit verbrachte man doch gerne eine bitterkalte Nachtwache an den Docks, auch wenn der Wind hier oben auf dem alten Ladekran einem Mann wahrlich die Eier abfrieren konnte. Doch Opfer mussten gebracht werden, denn die Götter waren immer hungrig.
Zudem konnte man nur von hier aus den Großteil der Hafenanlagen überblicken. Es war ein strategisch wichtiger Punkt, denn mein Informant in den Reihen des Ordens hatte mir nur sagen können, wann die Übergabe stadtfand, aber nicht genau wo im Hafen. Jeder der in den schwarzen Fluten schwappenden Frachter könnte es sein. Besser sie alle im Blickfeld zu haben, besser sie—
Mein Herzschlag beschleunigt sich, als am anderen Ende des Docks ein Zwillings-Kegel aus Licht die Dunkelheit zerteilt. Scheinwerferlicht. Stark und rein, nicht wie die rauchenden Öllampen, die hier und da im Winde wankten. Ein schwer gepanzerter Kriegswagen kommt einen Moment später auch schon um die Ecke, dicht gefolgt von einem Truck und einem weiteren gepanzerten Vehikel. Ich lecke mir über die spröden Lippen.
Hier ist sie: Meine Beute. Wer sonst wäre dazu imstande zu dieser späten Stunde ein derartig martialisches Aufgebot in diesem so gut wie verlassenen Teil der Docks zu schicken? Im Anbetracht des schieren Levels an Geheimnistuerei musste der Orden wahrlich eine höchst illegale Lieferung erwarten, was in einem Drecksloch wie Unterwaagen schon etwas heißen mochte. Mit Sicherheit illegal genug, dass niemand ein Attentat zum Gehör des Greifen bringen wird.
Wie heißt es so schön: Gelegenheit macht Mörder.
Mein Grinsen weitet sich und ich blase mir Wärme in die Hände, bevor ich mein geliebtes MTs-116M Scharfschützengewehr in Position bringe. Ich schließe meine Augen und schicke ein kurzes Gebet an die Götter des Todes. Sie antworteten nicht – Götter sind im Allgemeinhin sehr wortkarg – aber ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, ihren hungrigen Blick auf mich gezogen zu haben. Ich öffne meine Augen und die Nacht scheint mit einem Mal voll von Möglichkeiten. Noch immer lächelnd spähte ich durch das Sternenlichtfernrohr, beobachte, wie der Konvoy auf ein kleines Frachtschiff am Ende der Docks zusteuert. Ein Frachtschiff, auf dem mittlerweile rege Bewegung herrscht.
Ich kalkulierte die Entfernung: 450 Meter, kein leichter Schuss, nicht einmal für jemanden wie mich. Wenigstens hat der Aschfall in der letzten Stunde nachgelassen, so das nur noch vereinzelte Flocken aus der Dunkelheit trudeln. Der faulige Wind des Aschlandes könnte jedoch Probleme machen. Sei's drum. Ich atme tief ein und aus, so wie Hel es mich gelehrt hat, beruhigte mein hämmerndes Herz, werde eins mit der Welt, eins mit dem Moment.
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ARCHETYPE 3.0
Science Fiction★Dritter und letzter Teil der WATTYS 2018 "Die Wortschmiede" Gewinner Story★ Liebe. Chaos. Zorn. Waagen, das große Mekka der Monster, ist in Aufruhr. Noch immer liegt der Rauch des Krieges über der Stadt, doch weiteres Unheil braut sich bereits zusa...