Leonora öffnete ihre Augen und schlug um sich, von einem Moment zum anderen hellwach – nur um festzustellen, dass sie alleine war. Sie keuchte, schluchzte, sah sich gehetzt um, doch von Anskar war nichts zu sehen. Sie war alleine in Smokes dekadentem Schlafzimmer, alleine auf dem Boden vor dem Bett, noch immer nackt. Alleine. Ihr Hals und ihre Kehle schmerzten und es war dieser Schmerz, der die Erinnerung an das was geschehen war zu ihr zurück brachte.
„Skar ..."
Ihre Stimme war rau, belegt, voll von Leid und Kummer. Mit dem Namen ihres Liebhabers kamen auch Qualen einer ganz anderen Natur. Ihre Finger wanderten zu ihrem Hals. Er hatte versucht sie zu töten. Hatte er nicht? Ihr Anskar hatte wirklich versucht sie—
Sie schnitt den Gedanken ab, bevor sie ihn zu Ende bringen konnte. Nein, nicht Anskar hatte versucht sie zu töten, sondern der Archetype. Ihr Anskar war ... tot, hatte all seine Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit und ihre Liebe vergessen. Sie schluchzte und Tränen füllten ihre Augen. Die Welt verschwamm. Alles was sie tun wollte, war sich zusammen zu rollen und zu sterben. Es wäre besser als dieser Schmerz, weit besser. Sie ließ sich für einige Momente von ihrer Trauer übermannen, vergoss bittere Tränen, die über ihre Wange rollten und in den dicken Teppich tropften.
„Skar ... Wieso? Warum hast du mich vergessen? Warum bist du ... warum bist du gestorben?"
Sie wehrte sich dagegen, doch die Erkenntnis, was nun getan werden musste, drang nur allzu schnell auf sie ein. Sie war wie eine brennende Hand, die ihr Herz gleichzeitig zerquetschte und verbrannte. Es war Zeit, das Versprechen, das sie ihrem Vater gegeben hatte einzulösen. Der Archetype war schlicht und einfach zu gefährlich, als dass sie ihn am Leben lassen durfte. Die bittere Realität blieb, dass sie in ihrer Wut und Trauer die Chance verpatzt hatte, ihn erneut an sich zu binden. Finsternis, es war ein Wunder, dass er ihr nicht einfach das Genick gebrochen hatte, so wie einst Tobias Specht, dem Assistenten ihres Vaters, als er sie bei ihrer Flucht aus Walhalla 23 ertappt hatte.
Leonora richtete sich mühsam auf, schniefte und wischte sich zornig die Tränen aus dem Gesicht. Fragen stürmten auf sie ein, die Wichtigsten: Warum hatte er sie nicht getötet? Warum war er überhaupt zu ihr zurückgekommen? War es Angelina? Hatte er sie wirklich während seiner Regenerationsphase mit seiner alten Liebe verwechselt oder war das Mysterium einfacher?
Sie krächzte: „Blut."
War es das? Ihr Blut und die Macht die darin schlummerte? War der Archetyp nichts weiter als ein Junkie mit Gedächtnisverlust dessen Gelüste ihn auf verschlungenen Wegen zu seinem Dealer brachten? Sie lachte bitter und kroch zum Bett, zog sich daran empor. Nicht, dass das Warum jetzt noch einen Unterschied machte. Finsternis, wie hatte sie nur so dumm sein können? Ihr Vater hatte sie gewarnt, dass der Archetype nach jeder Neugeburt eine labile Phase durchmachte. Eine Art psychogene Amnesie, in der er sehr beeinflussbar war und in der seine Persönlichkeit sich in die eine oder andere Richtung entwickeln mochte. Leonora hatte diese Chance verschwendet, hatte es versäumt eine neue Vertrauensbasis zu bilden. Ihr Anskar mochte tot sein, doch vielleicht hätte sie—
„Nein!" fauchte Leonora, unwillig den Gedanken weiterzuführen.
Jetzt gab es nur noch eines, das sie tun konnte, das sie tun musste. „Ouroboros..." Sie flüsterte den Namen, als wäre es ein Fluch und in gewisser Hinsicht war er das auch. Nicht für sie, sondern für den Archetypen. Ein Virus mit nur einem Zweck: Ihn zu vernichten. Fragt sich nur, ob Smoke die Schatulle mit den Phiolen nicht einfach entsorgt hatte.
„Scheiße." Leonora kämpfte sich auf die Beine, stand einen Moment schwankend da und sah sich in dem Schlafgemach des körperstehlenden Dings um, das sie um ein Haar verschlungen hätte. Wie viel Zeit war überhaupt vergangen? Die Sonne auf der Videowand hatte den Horizont geklärt, stand aber noch nicht hoch. Viel Zeit konnte also nicht vergangen sein – falls man etwas auf die Illusion geben konnte. Sie wandte sich ab und ihr Blick wurde automatisch von den Säulen mit den in Nährflüssigkeit treibenden Häuten angezogen. Menschen und Veränderte, reduziert zu nichts weiter als Kleidung für ein psychopatisches Monster.

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ARCHETYPE 3.0
Science Fiction★Dritter und letzter Teil der WATTYS 2018 "Die Wortschmiede" Gewinner Story★ Liebe. Chaos. Zorn. Waagen, das große Mekka der Monster, ist in Aufruhr. Noch immer liegt der Rauch des Krieges über der Stadt, doch weiteres Unheil braut sich bereits zusa...