Geister der Vergangenheit

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Gefahr!

Das Herz des Vernarbten hämmerte in seiner Brust, Schweiß stand ihm trotz der Kälte auf der Stirn und sein Kopf pendelte hin und her, die Augen immer in Bewegung, immer auf der Suche. Sogar die Sehnen- und Muskelstränge unter seiner vernarbten Haut zuckten und wanden sich wie aufgebrachte Schlangen ... oder Tentakel.

Tentakel ...

Da waren sie wieder, die schnatternden Gedanken eines Irren. Sein Verstand wandte sich jedoch schnell wieder der reelleren Bedrohung zu: Den wuselnden, wimmelnden und wogenden Massen. Wahrlich, gab es eine schlimmere Hölle, als andere Menschen? Seine Odyssee wurde etwas erträglicher, als Adelmar ihn vom geschäftigen Basar in einen Seitenarm führte den er Orrator's Alley nannte. Es war eine skurrile Mischung aus „Fressmeile" und Versammlungsplatz, auf der sich eine bunte Mischung aus Rednern zusammengefunden hatte, die versuchten die hungrigen Horden von ihrer Weltansicht zu überzeugen. Für den Moment hatte der Vernarbte jedoch keine Augen für die auf Kisten oder Podien stehenden Oratoren. Seine Aufmerksamkeit galt in voller Gänze den Schulter an Schulter stehenden Food-Trucks und Imbiss-Containern. Überall kochte, brutzelte und grillte etwas und das geballte Aroma von geräuchertem Fisch, gebratenem Fleisch und – wie er mit Schrecken feststellte – Riesen-Insekten jeder Art wehte ihm entgegen.

Verdammte Axt, wie die Schlaraffenland-Version von Dantes Inferno ...

„Habt ihr schon einmal einen Döner gegessen, mein Freund?", rief Adelmar über den bienenstockartigen Lärm. „Kassim, ein wahrer Meister des Kebab-Kung-Do, hat seinen Food-Tempel ganz in der Nähe. Seine Döner sind ein von der Welt fast vergessenes kulinarisches Wunder. Köstliches Fleisch und sukkulente Saucen! Einfach köstlich. Kann ich euch dafür begeistern?"

„Klingt gut!", rief der Vernarbte – und du bringst mich besser schnell dort hin, bevor ich dir deinen Arm abreiße und ihn verschlinge! Der Hunger in seinen Eingeweiden war mittlerweile fast mehr als er ertragen konnte: Ein schwarzes Loch, das an ihm nagte, ihm das Denken schwerer und schwerer machte. Unter anderen Umständen, hätte er sich wohl einfach mit Gewalt genommen was er brauchte.

Sie bahnten sich einen Weg durch die Zuschauermassen, welche regelrechte Inseln um die Sprecherpodien gebildet hatten. Die meiste Zeit hielt der Vernarbte seinen Blick jedoch starr auf Adelmars Rücken gerichtet. Es war schließlich schon schwer genug die Kontrolle zu behalten, auch ohne die Leute anzustarren, die sich diesen Irren lauschend Essen ins Gesicht stopften. Nach einer gefühlten Ewigkeit saßen die beiden letztendlich am langestreckten Tresen des Kebab-Kung-Do-Tempels und der Vernarbte vergrub sein Gesicht in einem ... Döner.

Zumindest nannte der in einen speckigen Karateanzug gekleidete dunkelhäutige Chef es einen Döner. Laut der lückenhaften Erinnerung des Vernarbten sah dieses Ding auch fast wie einer aus. Die Qualität jedoch ... nun ... er war sich ziemlich sicher, dass Fladenbrot normalerweise nicht aus Sägemehl und Kartoffelschalen bestand. Das einzig grüne an der Salatfüllung waren die Pilze – und das auch nur, weil diese leicht grünlich leuchteten. Die restliche Gemüseeinlage bestand aus Zwiebeln, etwas das hoffentlich Rotkohl war und einer Mystery-Sauce über die er gar nicht erst genauer nachdenken wollte. Was dieses kulinarische Verbrechen an der Menschheit jedoch rettete war das Fleisch. Dieses war einfach nur großartig.

Knusprig. Sukkulent. Würzig.

„Na? Schmeckt es?", fragte Adelmar und spießte eine schmalen Streifen Grillfleisch auf seiner Gabel auf.

„Mmm hmmm", brummte der Vernarbte und vergrub sein Gesicht einmal mehr in seiner Mahlzeit. Heißer Fleischsaft und weiße Soße rannen ihm über das vernarbte Kinn. Er hielt nur inne, um sich ab und an eine Handvoll Pommes Frits ins Gesicht zu stopfen, die so salzig und fettig waren, dass er spürte, wie sich seine Venen in Horror zusammenzogen. Doch all dies war ihm egal. Das einzige das zählte war zu Essen. Zu essen und zu vergessen.

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