The Weight of the World

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Dieser dreckige Schuft...

Wie konnte er nur seelenruhig mit diesem bescheuert gekleideten Kerl in Zylinder und Frack dasitzen und sich den Bauch vollschlagen nachdem er sie gesehen hatte? In Ordnung, sie hatte sich vor ihm versteckt, aber er hätte verdammt nochmal länger nach ihr suchen können als ein paar Minuten, bevor er mit eingezogenem Schwanz zu diesem widerlichen Döner Tempel zurückschlurfte. Leonora war so verbittert, dass sie die suchenden Finger fast nicht bemerkte, die gerade dabei waren ihr die Pistole aus dem Halfter zu ziehen. Fast. Ihre Hand schoss aus, legte sich um einen Finger und bog ihn mit aller Kraft zurück.

Crack!

„Ngh!" Der schmächtige Langfinger – wobei dieser Name jetzt wohl nicht mehr zutraf – keuchte auf und versteifte sich, so als hätte ihn jemand bei den Eiern gepackt und zugedrückt. Leonora lies ihn los und der Kerl knickte ein, woraufhin sie sein Gesicht mit ihrem gepanzertes Knie bekannt machte.

Crack!

Seine Nase brach mit einem widerlichen Knacken, sein Kopf ruckte zurück, Blut spritzte und er fiel hintenüber in den Dreck, bewusstlos. Leonora hingegen war in Bewegung, noch bevor jemand realisiert hatte, was geschehen war. Das war der dritte Taschendieb, der sich bis jetzt an ihr versuchte hatte und ihre Geduld war verdammt noch mal am Ende. Zuvor hatte sie die suchenden Finger nur verbogen, die Markt-Diebe mit einer Warnung davon kommen lassen. Nicht mehr. Wie sagte Anskar immer so schön: Lernen durch Schmerz.

Der Gedanke machte sie nur noch wütender. „Finsternis." Den Döner Tempel im Auge, tauchte Leonora in die Zuschauermenge, die sich um einen von Verbrennungen und Mutationen gezeichneten Propheten und dessen fanatische Jünger gescharrt hatte.

„Schmerz ist Wandel!", kreischte der geifernde Irre über ihren Kopf hinweg, seine drei blinden Augen weit aufgerissen. „Preiset den Schmerz! Preiset die Feuer der Grünen Sonne! Gebt euch ihrem Kuss hin! Gebt euch dem Wandel hin!"

Leonora bedachte den Fanatiker mit einem wütenden Blick. Verdammter Spinner. Sie hätte gut Lust gehabt seiner Kiste einen Tritt zu geben, damit er in das mit grünem Feuer lodernde Ölfass stürzte.

„Preiset den Schmerz! Preiset das Feuer!" heulten die um das Fassfeuer tanzenden Jünger, ihre Stimmen laut und schrill über das Zischen der glühenden Drahtpeitschen, mit denen sie sich gesielten.

Denny hatte ihr erzählt, dass die Zwillingsstädte ein Mekka für Kulte, obskure Religionen und diverse politischen Organisationen waren, doch sie hätte nie geahnt, welche Extreme dies annehmen konnte. Jetzt wusste sie es. Die Frage war nur, wieso sie so verdammt wütend war.

War es, weil der Archetype sie gefunden hatte und nicht umgekehrt?

Leonora schüttelte den Kopf. Nein, das war nicht verwunderlich im Anbetracht dessen, wie sehr sich diese Inkarnation von Anskar unterschied. Ihr Liebhaber war ein Hüne in einer Welt der kleinen Männer gewesen, hatte so ziemlich jeden um Kopf und Schultern überragt und war der Welt aufrecht entgegengetreten. Nach so jemandem hatte sie Ausschau gehalten. Diese Inkarnation jedoch hielt sich gebeugt, machte sich so klein wie möglich, so als befürchte sie jeden Moment einen Schlag abzubekommen. Da war nichts von der stolzen Körperhaltung Anskars. Nichts. Die Körpersprache des Archetypen zeugte von jemandem, der Angst hatte. Sogar jetzt musterte der Vernarbte die Massen mit paranoiden Blick. Leonora änderte ihre Position um diesem Blick auch weiterhin zu entgehen, hörte die Stimme ihres Vaters in ihrem Kopf wieder: „Er wird nach seinem Erwachen sehr beeinflussbar sein. Formbar."

Wahre Worte. Schmerzhaft wahr. Natürlich war der Archetyp immer noch gemeingefährlich, wie das kleine Schauspiel mit dem riesigen Steppenkrieger bewiesen hatte. Einen Schlag, mehr hatte es nicht gebraucht, einen Schlag. Sie schüttelte den Kopf. Diese Inkarnation war sogar noch stärker als Anskar, weit stärker. Nur ein Grund mehr, dass sie vorsichtig sein musste. Sehr vorsichtig. Insbesondere, da er weit davon entfernt war, die einzige Gefahr in diesem Haifischbecken zu sein.

Nur wenige Meter von ihr entfernt schlenderte ein Duo Gang-Mitglieder mit Maori-Gesichtstätowierungen an ihr vorbei. Einer deutete verstohlen in ihre Richtung. Die beiden tuschelten, grinsten. Es war die Art Grinsen, die Leonora mittlerweile schmerzhaft vertraut war. Sie hätte schreien können. Mit dem Respirator über ihrer unteren Gesichtshälfte und der Kapuze über ihrem Kopf zeigte sie der Welt kaum mehr als ihre Augen und trotzdem schien ihre Sukkubus-Natur notgeile Arschlöcher noch immer anzuziehen. Die zwei schlenderten auf sie zu, grinsten von Ohr zu Ohr.

Leonoras Herzschlag und Atem beschleunigten sich. Die Welt schien langsamer zu werden, als ihre Hand sich auf den Griff der schallgedämpften Pistole legte. Sie zog die Automatik aus dem Halfter ... und die beiden glitten an ihr vorbei, überraschten, umarmten und küssten zwei Mädchen, die scheinbar von der gleichen Gang waren. Leonora schluckte schwer und steckte ihre Pistole wieder weg, ihr Herz im Angesicht dieser jungen Liebe mit einem mal sehr schwer, insbesondere, als sie sich wieder dem Archetypen zuwandte. Auch er litt, es war unverkennbar.

Vielleicht war es dass, was ihr so zu schaffen machte. In ihrem Kopf hatte sich das Bild eines Monsters geformt, einer Gefahr für die Welt. Die Realität jedoch sah anders aus. Sehr anders. Ihr Weg durch den Slum war selbst für sie verstörend gewesen, wie schlimm war es wohl für jemanden, der diesen Ort und seine Wesen nicht kannte? Er musste das Gefühl haben in einem Alptraum gefangen zu sein, aus dem es kein Erwachen gab. Schlimmer noch, sie hatte Schmerz in seinen so schrecklich vertrauten Zügen gesehen, als sich ihre Augen trafen. Schmerz und Scham und Erleichterung, aber auch Hunger. Ein Hunger, der ihr Angst machte. Ihre Finger strichen über die Injektionspistole in ihrer Tasche. Es wäre ein leichtes, all dies zu beenden. Alles was sie tun musste war den Archetypen im Gedränge des Marktes anzurempeln. Ein kleiner Stich und es würde vorbei sein. Die Welt wäre sicher und er wäre von seiner Angst erlöst. Für immer. Vielleicht würde er es gar nicht merken. Vielleicht wäre es ein friedliches Ende.

Vielleicht ...

Der Moment zu handeln kam viel zu schnell – so wie es Momente dieser Art immer an sich hatten. Das Duo erhob sich und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Leonora nahm die Verfolgung auf und holte ihre Injektionspistole hervor. Seltsam wie schwer dieses kleine Ding mit einem Mal wog. Schwer wie die ganze Welt ...


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Oh, weh... :O

Was denkt ihr, wird Leonora es durchziehen?

Zudem eine Bonusfrage zu, "Dieser dreckige Schuft..."

Welche (doch schon etwas ältere Werbung) hat mich wohl dazu inspiriert? xD


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