Licht und Schatten

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Leonora betätigte den Auswurf ihrer Automatik, holte ihr letztes Magazin mit Betäubungsmunition hervor und rammte es in den Schacht, noch bevor das Leere auf den Boden klaterte. Zu keiner Zeit ließ ihr Blick von dem fleischgewordenen Alptraum vor ihr ab.

Oh Skar, was ist nur aus dir geworden?

Archetype – Urform oder Urbild – war ein zu schönes Wort, zu ungenau, um die Realität zur beschreiben, die keine zwanzig Meter vor ihr stand. Urbild des Grauens, des Horrors traf es da schon eher, doch auch das wurde seiner jetzigen Form nicht gerecht. Leonora war dankbar, dass ihr Vater ihr nicht mehr über das Archetype Projekt erzählt hatte, sehr dankbar. Hätte sie gewusst, was in Anskar schlummerte, hätte sie vermutlich nie die Kraft gehabt ihn aus seiner Zelle zu befreien, geschweige denn das Bett mit ihm zu teilen.

Es war riesig ...

Ein enormes Flickwerk-Monstrum mit mehr Muskeln als dieser grüne Mutant, den sie einst in einem alten Filmklassiker gesehen hatte, die geraubten Körperteile zusammengehalten von einem Adergeflecht aus tiefster Dunkelheit. Wenigstens wusste sie jetzt, was aus der unteren Körperhälfte des Werwolfs geworden war – oder aus seiner rechten Hand. Adelmar hing von dieser herab wie ein Kleinkind, das man auf einer Mistgabel aufgespießt hatte. Ihr verrückter Hutmacher hatte aufgehört zu zucken und sein Leiden war zu Ende, bei Gott, es war endlich— Leonora schrie auf, als Adelmars geschundener Körper zu Boden geschleudert wurde und wie eine überreife Tomate zerplatzte.

Mein Gott ...

Anskar hatte schon immer einen gewissen Hang zur Grausamkeit gehabt, doch die überwältigende Brutalität zu der diese Inkarnation fähig war, erschütterte sie bis in den Kern ihres Wesens. Leonora würgte, schmeckte einmal mehr die Bitterkeit von Säure auf ihrer Zunge und hielt sich die Hand vor den Mund – oder besser gesagt, ihre Maske – rammte sich dabei beinahe die Injektionspistole ins Auge. Sie lachte hysterisch auf, hatte nicht einmal bemerkt, dass sie diese wieder gezogen hatte. Wäre es nicht der Gipfel der Ironie, wenn sie sich durch ihre Ungeschicktheit eine Ladung des Ouroboros-Virus ins Auge jagte? Was für ein Paar sie beide dann doch abgeben würden. Zwei Einäugige Monarchen unter den Blinden ...

Sie biss auf ein erneutes Kichern. Finsternis. Reiß dich zusammen, Nora.

Dies war nicht der Moment für Schwäche jedweder Art und schon gar nicht für Galgenhumor. Sie schluckte ihren Horror zusammen mit ihrem bitteren Speichel herunter, befahl sich ruhig zu bleiben – mit mäßigem Erfolg.

Ruhig ...

Gab es irgendeine Kreatur auf dieser Welt, die im Angesicht dessen, was aus Anskar geworden war ruhig bleiben konnte? Er war kaum mehr als eine monströse Karikatur des Mannes den sie geliebt hatte und dennoch ... dennoch war genug von seinem alten Selbst geblieben, um ihr weh zu tun.

Der Archetype hob sein Bestienbein und brachte es in einem beiläufigen Akt der Grausamkeit auf Adelmars bereits gebrochenem Schädel nieder – Splash! Sie wollte wegsehen, konnte es jedoch nicht. Warum trat die Wirkung der Injektionen nicht endlich ein? Ein hissender Laut entkam der tonnenförmigen Brust des Archetypen und die Haare in Leonoras Nacken stellten sich auf. Es war ein kranker Laut. Dement. Irr. Es dauerte einen Moment bis sie erkannte was es war.

Lachen ...

Noch schrecklicher jedoch waren die Augen, welche sich Schwären gleich überall im Fleisch ihres ehemaligen Liebhabers geöffnet hatten. Menschliche Augen. Leonora erkannte die Intelligenz in ihnen, mehr noch, sah Individualität, sah Verzweiflung, Hoffnung, Hass. Und Wahnsinn. Tiefster Wahnsinn. Es waren Fenster in die Seelen derer, welches dieses Ungeheuer verschlungen hatte.

„S... Skar?" Der Name kam ungebeten über ihre Lippen, gesprochen von einer verräterischen Zunge, einem verräterischen Herz.

Der Kopf des Archetype pendelte langsam zu ihr herum, seine Züge noch immer in einem Totenschädelgrinsen erstarrt. Leonora sah in sein Auge – und ihr war, als stünde sie vor einem windumtosten Abgrund. Existierte in dieser hungrigen Finsternis noch irgendetwas von dem Mann, den sie so sehr geliebt hatte?

ARCHETYPE 3.0Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt