Paradise Hall

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„Finsternis..."

Es war schwer zu sagen, was der verschachtelte Gebäudemoloch einst gewesen sein mochte. Vielleicht eine Lagerhalle, eine Reihe aus LKW-Garagen, ein Werkstattkomplex? Heute war es ein labyrinthartiger Kaninchenbau aus zusammengeschweißtem Schrott mit einem Wirrwarr aus Räumen, schlecht beleuchteten Gängen, Laufstegen und Wohneinheiten. Als ob dieses Verbrechen an der Architektur nicht schon schlimm genug wäre, hatte die hier hausende Bande auch noch versucht dem ganzen „Charakter" zu geben.

Neon-Graffiti zierte die Wände und fast jeder Raum war angefüllt mit verblassten Luxusgütern aus der alten Welt. Es war eine Dekadenz, die sowohl geschmacklos bunt als auch billig war, insbesondere nach der tristen Einöde des Slums dort draußen. Leonora konnte sich nicht helfen, sie fühlte sich mit jedem Schritt mehr wie Alice in einer Alptraumversion des Wunderlands. Nur das sie keinem weißen Kaninchen nachjagte, sondern einer Bio-Waffe im Berserkermodus. Sie warf einen Blick auf ihren neuen Gefährten, der ihr ein blutiges Lächeln schenkte und sich mit seinem Gehstock an den Zylinder tippte.

Finsternis, ich habe sogar meinen eigenen verrückten Hutmacher dabei...

Leonora wandte ihren Blick schnell wieder ab. Das Lächeln auf Adelmars leichenblassem Gesicht widerte sie an, was nichts mit seinen fehlenden Zähnen zu tun hatte. Es war viel mehr, dass es das Grinsen eines frisch Verliebten war – ein Ausdruck der Macht ihres Blutes. Ihn in ihrem Bann geschlagen zu haben widerte Leonora an, insbesondere da der Sukkubus in ihr Frohlockte, doch was hatte sie schon für eine Wahl gehabt? Keine. Der Nano-Schaum in ihrem First-Aid-Kit war genug um Adelmars Bauchwunde zu versiegeln und um ihn ein paar weitere Stunden zu erkaufen, doch ohne ein Schmerzmittel wäre er nutzlos für ihren Plan gewesen. Was blieb ihr also schon, außer einmal mehre ihre Macht zu missbrauchen?

Sie musste jedoch zugeben, dass Adelmar bisher eine große Hilfe war. Auf ihrer Jagd nach dem Archetypen war sie bereits zweimal von kunterbunt gekleideten Gang-Mitgliedern angegriffen worden. Beide Male hatte sie Adelmars rasches Handeln und dessen Betäubungsstock davor bewahrt, diesen Männern das Leben nehmen zu müssen. Schließlich waren sie hier die Eindringlinge und diese Männer verteidigten nur ihr Zuhause. Als sie sich jedoch auf Umwegen auf dem wackeligen Laufsteg einer neuen Halle wiederfanden, bereute sie es diese zwei dreckigen Halunken nicht abgestochen zu haben ...

„Was in Gottes Namen", hauchte Leonora, ihre Beine mit einem mal schwach, die Augen weit und ungläubig im Angesicht des Horrors unten in der Halle.

Leonora hatte Bilder und Videos von Massentierhaltung in Walhallas Internet-Archiven studiert, hatte gesehen, wie hunderte von Lebewesen unter erbärmlichsten Bedingungen auf engsten Raum zusammengepfercht und ausgebeutet wurden. Es war industrielle Grausamkeit auf einem so dämonischen Level, das diese Bilder sie in vielerlei Hinsicht mehr erschüttert hatten, als die Gräueltaten des Großen Krieges. In gewisser Weise waren sie ein Beweis, dass schon immer Monster im Inneren der Menschen geschlummert hatten – und nicht jedes davon war von Chimära an die Oberfläche gebracht worden. Sie hatte seit Jahren nicht mehr an diese Bilder gedacht – bis jetzt.

Dutzende Männer, Frauen und Kinder von sowohl menschlicher, als auch metamenschlicher Natur befanden sich in der Lagerhalle unter ihr. Einige lagen in Betten, andere hatte man wie Rinderhälften in Gestellen an der Wand aufgehängt. Die meisten trugen irgendeine Art verkabelten Helm auf dem Kopf, an anderen waren krude chirurgische Eingriffe vorgenommen worden und Kabel wucherten aus billigen Datenbuchen in Schädeln, aus rohen Augenhöhlen, aus freilegenden Gehirnen. Der Gestank von menschlichem Abfall, von Verwesung und Chemikalien war genug um sie würgen zu lassen.

Leonora zog sich ihre Atemmaske über das Gesicht. „Was... was ist das für ein Ort?"

„Esch ... Es gibt ... Gerüchte über so einen Ort im Blackstink", begann Adelmar, der sich mühte trotz seines Mangels an Zähnen nicht zu nuscheln. „Paradise Hall. Eine ... eine Sklaven-Farm, die sich in der eisernen Hand einer Bande Butcher-Boys befindet. Es scheint, als hätten wir diesen Ort gefunden."

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