11. Schock

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Schock
Substantiv, maskulin [der]
durch ein außergewöhnlich belastendes Ereignis bei jemandem ausgelöste seelische Erschütterung [aufgrund deren die Person nicht mehr fähig ist, ihre Reaktionen zu kontrollieren]

Joanna und ich quetschen uns zwischen all den Partygästen hindurch und bahnen uns einen Weg ins Wohnzimmer. Hin und wieder begrüsst sie jemanden oder nickt kurz in eine Richtung. "Kennst du die Leute alle?", frage ich neugierig. "Nicht alle. Taylor hat viele Freunde, bringt sie aber selten nach Hause. Es sind auch einige Freunde von Harry und mir da, die Taylor aber auch kennt." Sie bleibt plötzlich stehen und lässt ihren Kopf in der Menge umher wandern.

Ich entdecke Taylor zuerst. Sie steht etwas abseits, neben dem kleinen Badezimmer, und unterhält sich mit einer brünetten, jungen Frau. "Taylor!", ruft Joanna in ihre Richtung und deutet ihr mit einem kurzen Winken an, dass sie zu uns kommen soll. Ich sehe, wie Taylor zu der Brünette etwas sagt und anschliessend in unsere Richtung kommt. Ihre Haare hat sie zur selben Frisur frisiert, wie gestern und auch ihre Lippen haben dieselbe, grässliche, pinke Farbe. Ihr Körper steckt in einem weissen, enganliegenden Kleid, welches unterhalb ihres Hintern auch schon endet. Der Ausschnitt ist gewaltig und man kann ihr direkt auf die üppige Brust schauen, wovon ich sicher bin, dass jeder Typ in diesem Raum das bereits getan hat. Das scheint sie allerdings nicht zu stören.

Ich trete einen Schritt hervor. Unschlüssig, ob ich sie in eine Umarmung ziehen soll oder nicht, tue ich es trotzdem. Immerhin hat sie heute Geburtstag. "Ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag", gratuliere ich ihr, als ich mich wieder von ihr gelöst habe. "Vielen Dank, Kasia." Sie lächelt mich breit an. Auf ihren weissen Zähnen ist ein kleiner, linker Fleck zu erkennen.

Ich schiebe meine Unsicherheit und mein mulmiges Gefühl ihr gegenüber auf die Tatsache, dass ich sie ja noch nicht wirklich kenne und womöglich erst warm mit ihr werden muss. Das würde wahrscheinlich seine Zeit in Anspruch nehmen. So wie mit Quinn. Mit ihr hatte ich schliesslich auch keinen super Start und jetzt, würde ich behaupten, sind wir richtig gute Freunde geworden.

Ich hebe entschuldigend die Hände. "Ich habe leider kein Geschenk für dich dabei." Taylor verdreht spielerisch die Augen und winkt ab. "Ach", macht sie, "das macht doch nichts. Joanna hat mir erzählt, dass du die Pizzarollen gemacht hast. Die schmecken wirklich super. Das ist doch Geschenk genug." Joanna nickt bestätigend. "Ja, die sind wirklich super. Du musst mir unbedingt das Rezept dazu geben."

Erleichtert lächle ich. "Freut mich, dass sie euch schmecken." Taylor berührt mich flüchtig am Arm. "Warte kurz hier, Kasia. Ich bin gleich wieder da." Unwissend, was Taylor nun vorhat, bleibe ich stehen und warte. Joanna hat ein Gespräch mit einem jungen Mann begonnen. Sie stellt mich vor und ich erfahre, dass ihr Gegenüber den Namen Steve trägt und er mit Joanna zusammen studiert.

Ich nehme mir vor, im Verlaufe des Abend mit einigen der Gäste Bekanntschaft zu schliessen. Ich bin von Natur aus ein extrovertierter Mensch, was ich auf meinen Reisen auch oft sein musste. Ohne meine extrovertierte und offene Art hätte ich viele Menschen gar nicht kennengelernt, mit denen ich meine Zeit verbracht habe. Es passt also gar nicht zu mir, dass ich mich plötzlich so unwohl fühle, zwischen all den fremden Leuten. Ich denke mir, dass es wahrscheinlich daran liegt, dass sich in meinem Leben ziemlich viel, ziemlich schnell geändert hat. Ich bin von Zuhause ausgezogen und habe einen neuen Job angenommen und befinde mich in einem komplett neuen Umfeld.

Aus dem Augenblick sehe ich wie Taylor auf mich zukommt. "Ich möchte dir gerne meinen Freund vorstellen", sagt sie, sobald sie in Hörweite ist. Das Blut in meinen Adern gefriert. Ich erstarre. Taylor braucht mir den jungen Mann nicht vorzustellen. Noch ehe ich sein Gesicht gesehen habe, weiss ich, wer er ist.
Es ist die Flasche Tequila in seiner Hand, die Ethan verrät.
Mir wird kalt und heiss zugleich. Das kann nicht sein. Ich muss mich verhört haben. Taylors weitere Worte geben mir Gewissheit, dass ich mich nicht verhört habe. "Ethan, das ist Kasia, unsere neue Mitbewohnerin. Kasia, das ist Ethan, mein Freund."

Mein Freund. Die Stimme in meinem Kopf wiederholt die Worte, mit denen meine kleine Welt zusammenbricht. Ich merke, wie meine Wangen sich rot verfärben und traue mich nicht meinen Kopf zu heben und in Ethans Gesicht zu blicken. Trotzdem tue ich es. Er trägt eine dunkelgrüne Cargohose, dazu ein weisses T-Shirt, welches sich eng an seinen Körper schmiegt. Mein Blick wandert höher, vorbei an seiner muskulösen Brust, entlang seiner Halsschlagader und seinen vollen Lippen. Die Lippen, die vor zwei Tagen noch meine berührt haben. Als meine Augen seine erreichen, sehe ich, dass Ethan genauso erstarrt ist, wie ich. Er hat wohl auch nicht damit gerechnet, mich hier anzutreffen. Wie auch?

Mir wird schlecht. Ich versuche mich aus meiner Schockstarre zu befreien, doch es gelingt mir nicht direkt. Meine Lippen teilen sich und ich setze dazu an, etwas zu sagen, doch es kommt kein Laut aus mir heraus. Ich weiss, dass entweder ich oder er jetzt etwas sagen muss, wir schwiegen schon zu lange. Deshalb bin ich unglaublich froh, dass er mir zuvor kommt und diese Aufgabe übernimmt.

Ethan sammelt sich und setzt das falscheste Lächeln auf, welches ich jemals gesehen habe. Er streckt mir die Hand hin. "Freut mich dich kennenzulernen, Kasia." Völlig perplex betrachte ich seine Hand, die vor mir in der Luft schwebt. Meint er das gerade ernst? Tut er wirklich so, als würden wir uns nicht kennen? Als wären wir nicht einmal ein Paar gewesen, als hätten wir uns nicht letztens im Dungeon gesehen, als hätten wir uns dort nicht geküsst? Am liebsten würde ich ihn direkt zur Rede stellen und ihn fragen, was das soll, warum er unsere Vergangenheit verheimlicht. Doch das tue ich nicht.

Stattdessen ergreife ich seine warme Hand und drücke kurz zu. "Freut mich ebenso", krächze ich. Zu diesen drei Worten muss ich mich regelrecht zwingen. Ich weiss nicht, was mich mehr verletzt. Der Fakt, das Ethan mit Taylor in einer Beziehung ist, oder der Fakt, dass er mich allem Anschein nach mit keinem einzigen Wort erwähnt hat und jetzt so tut, als würde er mich nicht kennen. Ich habe so viele Fragen und bin mir dabei nicht einmal sicher, ob ich seine Antworten darauf hören will.

Manchmal ist es besser, wenn die Fragen unbeantwortet bleiben. Die Antwort kann nämlich schlimmer sein, als die Ungewissheit.

"Wie lange wohnst du schon hier?", fragt Ethan. Er versucht unauffällig zu wirken. Doch es gelingt ihm nicht. Seine Stimme stockt. Etwas fassungslos starre ich ihn an. Will er mich jetzt in einen dummen und sinnlosen Smalltalk verwickeln? So als sei rein gar nichts zwischen uns geschehen?
"Seit ziemlich genau einer Woche", antworte ich. Bitte, wenn er das Spiel spielen will, dann spiele ich mit. Ganz wie er will. "Und ihr?", stelle ich eine Gegenfrage, "wie lange seid ihr schon zusammen?"

Es ist Taylor die antwortet, nicht Ethan. "Seit fast einem Jahr." Taylor strahlt. Sie wirkt so glücklich, dass sich meine Überlkeit verstärkt. "Wie habt ihr euch denn kennengelernt?", frage ich unsicher. Ein Teil von mir will eine Antwort, der andere Teil will es eigentlich gar nicht wissen. Es spielt ja auch keine Rolle.

Während Taylor erzählt, beobachte ich Ethan, der seine Augen direkt von mir abwendet, als ich ihn anschaue. Er starrt zu Boden. "Irgendetwas an meinem Auto war kaputt, weswegen ich damit in die nächstbeste Werkstatt gefahren bin." Taylor wirft ihm ein breites Lächeln zu. "Und da war dann Ethan, der mein Auto repariert hat. Weil ich ihn nicht mehr aus dem Kopf gekriegt habe, bin ich am nächsten Tag mit dem Vorwand, mein Auto sei immer noch kaputt, wieder in die Werkstatt gefahren und ich habe ihn dazu gebracht, mich um ein Date zu bitten."

"Schön", sage ich mit falscher Freude. Ich halte es nicht länger in Ethans Nähe aus. Zu wissen, dass ich ihn nicht berühren kann, macht mich fertig. Er gehört nun einer Anderen. Er gehört Taylor. "Entschuldigt mich bitte", bringe ich eilig hervor. Ich muss dringend hier weg. Also dränge ich mich an Ethan und Taylor vorbei, fange dabei seinen Geruch ein, den ich noch immer so sehr liebe und verschwinde in meinem Zimmer.

Hinter mir schliesse ich die Tür und lehne mich mit dem Rücken dagegen. Ich merke, wie sich blanke Panik in mir breit macht und ich versuche mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen. Nach einer Weile fühle ich mich zwar noch immer schrecklich, doch es wird besser. Von Sekunde zu Sekunde wird es besser. Nur nicht gut. Das wird es nicht.

Am liebsten hätte ich geschrien oder sogar geweint. Ich spüre Wut in mir, Fassungslosigkeit aber auch Schmerz und Traurigkeit. Ich hätte alles dafür gegeben, mein Zimmer nicht mehr verlassen zu müssen. Aber ich will nicht, dass er sieht, wie sehr mich die ganze Situation mitnimmt. Er soll mich nicht so verletzlich sehen. Ich will ihm nicht zeigen, dass er immer noch Kontrolle über mich hat.

Also reisse ich mich schweren Herzens zusammen und raufe mir die Haare. Ehe ich die Tür öffne und meine privaten vier Wände verlasse, atme ich noch ein paar Mal tief durch. Für den Rest des Abends versuche ich Ethan aus dem Weg zu gehen.

Lovely DarlingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt