29. Fotografie

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Fo.to.gra.fie
Substantiv, feminin [die]
einzelnes Lichtbild, Foto

Während Ethan nach meinen Ladekabel sucht, nutze ich die Gelegenheit mich ein wenig in seiner Wohnung umzusehen. Ich muss nicht mehr als drei Schritte gehen um jede Ecke seines kleinen Reiches zu erblicken. Die hohen Fenster ermöglichen es, dass genug Tageslicht durch den Raum strahlt.

Da Ethan schon immer dazu veranlagt war, jede Postkarte und wirklich alle Konzerttickets aufzubewahren und aufzuhängen, so ist neben den alten Postern und Plakaten von verschiedenen Musikbands kaum noch ein leerer Fleck an der Wand zu entdecken. Neben den Schmuckstücken, die auch schon an den Wänden seines alten WG-Zimmers hingen, entdecke ich auch einige neue. Darunter eine Postkarte von Monaco. Bestimmt von Taylor.

Ich mag es, dass man Ethans ganzes Leben an den Wänden sehen kann. Alle Orte, die er bereits besucht hat, alle Künstler, die er gesehen hat, alle Fotografien, die er je geschossen hat. Alles, was Ethan ist.

Ich höre, wie Ethan einen triumphierenden Laut von sich gibt. Drei Sekunden später taucht seine atemberaubende Gestalt wieder in meinem Sichtfeld auf. "Hier ist es", sagt er und hält mir mein verlorenes Schatzstück entgegen. Ich nehme es schmunzelnd an. "Danke dir. Vermutlich werde ich Taylor nie wieder etwas ausleihen."

"Sie ist ziemlich gut darin Sachen zu verschlampen" Ethan steckt seine Hände in die Hosentaschen, so wie er es immer tut und zieht die Mundwinkel in die Höhe. "Na dann", sage ich und drehe mich um, um mich wieder auf den Heimweg zu machen. Ich habe ja alles was ich will. Ausser Ethan.

Jeder Muskel in meinem Körper spannt sich augenblicklich an und das Blut scheint in meinen Adern zu gefrieren, als ich die schwarz-weiss Fotografie entdecke, welche an der Wand neben der Wohnungstür hängt. Sie zeigt einen weiblichen, nackten Körper, welcher mit dem zarten Rücken in die Kamera posiert. Das helle Licht fällt von der rechten Seite ein und hinterlässt so ein einzigartiges Licht- und Schattenspiel auf der nackten Haut. Die Frau hat ihr Gesicht leicht zur Seite gedreht. Ihr Profil wird allerdings von dem rechten Arm verdeckt, da sie die beiden Arme über ihrem Kopf gekreuzt hat.

Wenn man es nicht weiss und mich noch nie nackt gesehen hat, so würde man kaum auf die Idee kommen, dass ich das bin. Vor allem, weil man mein Gesicht nicht erkennen kann. Einzig und allein der helle Pigmentfleck auf meinem unteren Rücken verrät mich. Ich schlucke. Ich habe nicht geglaubt, dass er diese Fotografie noch immer besitzt. Geschweige denn, dass er es in seiner Wohnung aufgehängt hat, dort, wo es seine neue Freundin jederzeit sehen kann.

"Es ist mein bestes Foto", sagt Ethan sanft. Ich habe wohl einen Augenblick zu lange auf die Fotografie gestarrt, sodass es Ethan nicht entgangen ist. Langsam, wie in Zeitlupe drehe ich mich zu ihm um. Kommt es mir nur so vor, oder ist der Abstand zwischen uns kleiner geworden? "Ich wusste nicht, dass du es immer noch hast", sage ich leise. "Wie gesagt. Es ist mein bestes Foto." Ich blicke auf und schaue direkt in seine grünen Augen. In die Augen, in denen ich mich schon tausende Male verloren habe. Die Augen, in denen ich mich auch gerade jetzt, in diesem Moment, verliere.

Ich spüre, wie meine Wangen heiss werden. Ein Ziehen zwischen meinen Beinen macht sich bemerkbar. Vermutlich soll das nicht so sein, nein, es darf nicht so sein. Aber es ist so. Und ich kann nichts dagegen machen.

Die ganze Zeit habe ich geglaubt, ihm auf keinen Fall begegnen zu wollen und ihm aus dem Weg zu gehen müssen. Ich dachte, dass es besser sei. Für alle. Für Ethan und für Taylor. Aber auch für mich. Und wahrscheinlich ist es auch besser, wenn Ethan und ich uns voneinander distanzieren, aber als ich hier so vor ihm stehe und mich in seinen grünen Augen verliere, stelle ich fest, dass ich das gar nicht will. Ich will Ethan nicht meiden und ich will ihm auch nicht aus dem Weg gehen. Im Gegenteil. Am liebsten würde ich jede Sekunden mit ihm verbringen.

Ich habe da so ein Gefühl, dass Ethan ein Stück weit auch so fühlt wie ich. Und dieses Gefühl will mich einfach nicht loslassen. Ich will ihn. Ich will Ethan mit allem was er hat und mit allem was er ist. Und es ist mir egal, wie egoistisch das von mir ist und wie unfair es gegenüber Taylor ist. Ich will Ethan.

Er öffnet seinen Mund und setzt dazu an, etwas zu sagen. Es verlassen aber keine Worte seine Lippen. "Was wolltest du sagen?", hauche ich. "Gar nichts", streitet er ab. Ich bin es leid, dass keiner von uns wagt es auszusprechen. Wir haben noch immer Gefühle füreinander, das ist unmöglich zu leugnen. Oder zumindest habe ich noch Gefühle für Ethan.

"Dann sag ich es für dich", sage ich entschieden, unwissend woher dieser Mut gerade kommt. "Da ist noch immer etwas zwischen uns, Ethan. Es war nie weg." Ethans Ausdruck spannt sich an, als er meine Worte hört. "Ich bin mit Taylor zusammen. Es geht nicht, Kasia."

"Ich weiss, dass du mit Taylor zusammen bist. Und es wäre unmoralisch von mir, wenn ich versuchen würde, euch auseinander zu bringen, weshalb ich es auch nicht tun werde. Alles was ich sage ist, dass ich das Gefühl habe, dass da noch etwas zwischen und ist. Das kannst du unmöglich leugnen. Du weisst das genauso gut, wie ich."

Ist es voreilig von mir, ihm das zu sagen? Nein, rede ich mir ein, das ist es nicht. Mom hat mir immer gesagt, mir selbst treu zu bleiben. Wenn ich meine Gefühle für ihn nun verleugne, würde ich dem widersprechen.

Ehe Ethan etwas sagen kann, klingelt mein Telefon. Es ist Mom. Ich entscheide mich dazu, sie wegzudrücken. Ich werde jetzt ganz bestimmt nicht mit ihr telefonieren, nicht wenn ich in Ethans Wohnung stehe und auch nicht, wenn Ethan und ich gerade diesen einen Moment miteinander haben. Nicht, wenn wir endlich über das sprechen, was schon seit Wochen zwischen uns liegt.

"Wenn dem nicht so ist", beginne ich erneut, "dann schau mir in die Augen und sag mir, dass ich mich täusche. Dann verspreche ich dir, dass ich nie, nie wieder ein Wort darüber verlieren werde und dir nie wieder zu nahe komme."

Ethan sagt nichts. "Sag es", fordere ich ihn auf, doch er schweigt noch immer. Er hat seine Lippen fest zusammengepresst, als hätte er Angst, dass er doch etwas sagen würde.

Meine Mom ruft erneut an, was mir das Gefühl gibt, dass ich wohl besser rangehen sollte. "Entschuldigung" murmle ich, als ich mein Handy aus der Hosentasche fische und den Anruf entgegen nehme.

Lovely DarlingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt