30. Selbstverständlichkeit

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Selbst.ver.ständ.lich.keit
Substantiv, feminin [die]
etwas, was sich von selbst versteht, was als selbstverständlich angesehen, erwartet, vorausgesetzt wird

Ethan fasst mich auf, als ich zu Boden sinke. Es ist, als hätten sich auf einmal all meine Körperspannung und meine gesamte Kraft in Luft aufgelöst. Meine Knie haben einfach nachgegeben. Mir wird schlecht und gleichzeitig unglaublich heiss. Meine Haut brennt, meine Wangen kitzeln. Es dauert keine Sekunde, bis ich in Tränen ausbreche. Ich habe nicht gewusst, dass man so schnell zu weinen anfangen kann. Woher kommen die ganzen Tränen?

"Kasia", stösst Ethan entsetzt aus, als er in die Hocke geht, damit er auf gleicher Höhe ist, wie ich. "Was ist los?" Er fasst mich am Arm. Ich kann ihn nur weinend ansehen. Die Tränen verschleiern meine Sicht, weswegen ich ihn nur unscharf erkennen kann. Doch das blanke Entsetzten in seinen grünen Augen, das sehe ich klar und deutlich. Durch das ganze Schluchzen, bekomme ich kaum noch Luft. Ein starker Druck macht sich auf meiner Brust bemerkbar. "Was ist denn?", fragt er erneut. Sein Blick fällt auf das Handy, welches mir aus der Hand gerutscht ist und nun auf dem Boden liegt. Er greift danach und hält es sich ans Ohr. "Hallo?", fragt er. "Ethan." Seine Schultern senken sich. Er macht "Mhm" und nickt leicht. "Okay", sagt er schliesslich. "Wir kommen." Dann beendet er das Telefonat und reicht mir das Handy. Ich kann es nur mechanisch entgegen nehmen. "Komm, Kasia", sagt er, greift mir unter die Arme und zog mich hoch. "Wir fahren ins Krankenhaus."

Ethan besitzt noch immer den orangefarbenen Pick-Up, den er von seinem Vater geschenkt bekommen hat. Sein Vater hat eine eigene Autowerkstatt, in der Ethan oft aushilft. So hilfsbereit und gutmütig wie er ist, tut er das bestimmt noch immer.

Die Fahrt ins Krankenhaus kommt mir elend lange vor. Dabei ist es nur eine Distanz von zwanzig Minuten. Ethan schafft es in fünfzehn. Zugegeben, er fährt schneller als erlaubt ist und er fährt auch einmal über eine rote Ampel. Aber ich weiss, dass er ein guter Autofahrer ist, ein sehr guter sogar. Deshalb habe ich auch keine Angst und fühle mich keine Sekunde lang unsicher. Würde Nick diesen Pick-Up fahren hätte ich vermutlich Todesangst.

Ich habe mich inzwischen wieder etwas beruhigt und mit dem Weinen aufgehört. Der Schock sitzt immer noch tief. Wie kann das nur sein? Man sieht es in Filmen, man liest es in Büchern, man weiss, dass es passiert. Irgendwo auf der Welt ist es Realität. Aber man würde niemals damit rechnen, dass es in seinem nahem Umfeld dazu kommt. Man denkt doch immer, mir passiert sowas nicht, uns passiert sowas nicht. Doch es passiert. Das Universum ist gnadenlos.

Ich merke, wie Ethan mir immer wieder besorgte Blicke zuwirft. Als ob er sich vergewissern will, dass es mir gut geht. Doch es geht mir nicht gut. Mein Blick ist stur gerade aus gerichtet. So sehe ich seine Hand, die sich auf meinen Oberschenkel legt nicht, ich spüre sie nur. Ich zögere kurz, ehe ich meine Hand auf seine lege und sich unsere Finger wie von alleine ineinander verschränken. Er drückt zu und ich drücke zurück.

Es gibt Leute, die haben eine starke Abneigung gegenüber Krankenhäusern, weil sie beispielsweise den Geruch nicht mögen und das ganze sterile Aussehen nicht abkönnen. Bei mir ist das nicht der Fall. Ich behaupte nicht, dass ich das Krankenhaus mag, denn es kommt mir komisch vor, etwas zu mögen, wo es Leuten schlecht geht und diese sterben. Es ist nur so, dass ich keine Abneigung gegenüber einem Krankenhaus empfinde. Ausser heute.

Heute spüre ich diese Abneigung, zum allerersten Mal. Ethan bringt den Pick-Up mit quietschenden Bremsen auf einem Parkfeld zum Stehen. Ich lege meine Hand an den Griff, mit dem sich die Tür öffnen lässt, wende mich ihm aber noch einmal zu, bevor ich aussteige. "Danke, fürs Fahren." Er nickt mit einer Spur von Besorgnis in seinem Lächeln. "Keine Ursache." Ethan macht ebenfalls Anstalten auszusteigen. "Du musst nicht mit aussteigen", sage ich. Es reicht, dass er mich schon hierher gefahren hat. Mit der Bahn hätte es bestimmt eine Stunde gedauert, wenn nicht sogar noch länger. Er muss nicht seinen Freitagabend für mich aufopfern. "Doch natürlich", beeilt er sich zu sagen. "Das ist doch selbstverständlich."

Lovely DarlingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt