31. Nähe

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Nä.he
Substantiv, feminin [die]
1. Geringe Entfernung
2. Jemandes Nahesein; enge Beziehung

Ich erwache, als jemand sanft an meinem Arm rüttelt. Mühsam öffne ich die Augen und hebe den Kopf. "Wir sind da", flüstert Ethan. Im ersten Moment bin ich verwirrt und kann nicht recht identifizieren, wo wir uns befinden. Erst die von den Laternen beleuchtete Haltestation der Bahn gibt mir Gewissheit. Wir sind bei Ethan zuhause.

Mom meinte, dass es nichts bringt, wenn wir alle drei die Nacht im Krankenhaus verbringen, und dass es in Ordnung sei, wenn Ethan und ich gehen. Natürlich habe ich mich dagegen gewehrt, da ich unbedingt da sein will, wenn Michael erwacht. Mom entgegnet daraufhin, dass er diese Nacht nicht aufwachen wird, und dass wir uns Morgen abwechseln können. "Du brauchst Schlaf, Schätzchen. Geh nach Hause und ruh dich aus. Komm morgen wieder."

Ich musste mir also eingestehen, dass Mom Recht hatte. So wie Moms immer Recht haben. Also öffne ich die Autotür und steige aus. Es ist kalt und ich friere. Ich folge Ethan den Weg hoch in seine Wohnung. Ethan ist gar nicht auf die Idee gekommen mich nach Hause zu fahren. Ich habe nicht darum gebeten und womöglich hält er es für besser, wenn ich diese Nacht nicht alleine bin. Harry ist bestimmt nicht zuhause, und wird es diese Nacht wahrscheinlich auch nicht sein. Taylor ist das verlängerte Wochenende weg und Joanna schläft ja bei ihrer Freundin Molly. Was würde Taylor wohl davon halten, wenn sie wüsste, dass ich diese Nacht bei Ethan verbringe?

"Eine warme Dusche wird dir bestimmt helfen", meint Ethan, als wir in seinen vier Wänden angekommen sind. Er schliesst die Tür hinter sich und legt den Schlüssel auf das kleine Regal neben der Tür. Ich nicke stumm. Er reicht mir eines seiner T-Shirts und ein frisches Badehandtuch. Dann begebe ich mich in das winzige Badezimmer.

Ich schliesse meine braunen Augen und stehe reglos da, das Prasseln des heissen Wassers geniessend. Ich spüre, wie sich all meine Muskeln entspannen und ich mich direkt besser fühle. Ich entdeckte Ethans Männerduschgel und einige Tuben, die bestimmt Taylor gehören. Sweet passion, lese ich und dreamy feelings. Normalerweise hätte ich mich nie für Ethans Duschgel entschieden, doch ich will nicht nach Taylor riechen, wenn ich in seiner Nähe bin.

Als ich mit nassen Haaren in seinem Houston Texans T-Shirt aus dem Badezimmer komme, steht Ethan an einer Tasse nippend in der Küche. Inzwischen hat er sich ebenso umgezogen und trägt nun eine graue Jogginghose und einen weissen Hoodie. "Möchtest du eine Tasse Tee?", fragt er, und ich verneine. "Ich würde mich einfach gerne schlafen legen." Ethan nickt. "Natürlich."

Ich warte darauf, dass er mir mitteilt, wo ich schlafen kann. In seinem Bett oder auf der Couch. "Soll ich...?", frage ich als nichts von ihm kommt und deute auf die Ledercouch. Ethan richtet sich auf. "Nein, natürlich nicht. Leg dich ins Bett. Sag Bescheid, wenn du was brauchst. Ich komme dann auch gleich."

Ich komme dann auch gleich, hat er gesagt. Er wird also auch im Bett schlafen. Wir beide werden die Nacht gemeinsam in seinem Bett verbringen. Ich kann nicht anders, als daran zu denken, dass es dasselbe Bett ist, in dem er mit Taylor schon unzählige Male geschlafen hat. Aber zugleich ist es immer noch das Bett, in dem auch ich schon mit Ethan geschlafen habe. Nur dass das, schon lange her ist.

Wie dem auch sei, Taylor ist nicht da. Sie spielte diese Nacht keine Rolle. Sie war nicht von Bedeutung, unwichtig. Ich hasse mich ein Stück weit selbst dafür, dass ich so denke. Ethan ist schliesslich ein vergebener Mann. Exfreund hin oder her. Ich mache auf dem Absatz kehrt und lege mich wenige Sekunden später in sein weiches, warmes Bett. Ich nehme die rechte Seite des Bettes. So wie ich es immer tue. Noch nie hat Ethan rechts von mir geschlafen. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz gewesen. Egal, wie das Bett auch stand, ich schlief immer auf der rechten Seite und er auf der linken. Der Mondschein fällt zwischen den Vorhängen hindurch und erhellt den Raum.

Ich lege mich auf die Seite und rolle mich zusammen. Meine Gedanken wandern zwischen Michael und Ethan hin und her. Zwischen den beiden wichtigsten Männern in meinem Leben. Traurig schlafe ich ein und erwache wieder, als die Matratze unter Ethans Gewicht leicht nach unten gedrückt wird, unwissend wie viel Zeit vergangen ist. Ich spüre seine Wärme und seine Nähe dicht hinter mir. Ich traue mich nicht, mich umzudrehen. Vermutlich würde ich mich nicht beherrschen können, wenn ich ihn jetzt ansehe. Die Anziehungskraft, welche von Ethan aus auf mich wirkt, ist unbeschreiblich stark und ich tue mir nur schwer damit, ihr zu widerstehen. Ich will ihr nicht länger standhalten. Dabei gibt es tausende Gründe weshalb ich es tun sollte und mir fällt kein Grund ein, warum ich es nicht tun sollte. Taylor hin oder her.

"Kasia?" Ethan flüstert. "Bist du noch wach?" Ich zögere einen Moment ehe ich zurück flüstere. "Ja, bin ich." Die Bettdecke raschelt, als Ethan sich bewegt. "Wie geht es dir?" Ich antworte mit einer Gegenfrage. "Er wird es schaffen, oder?" Ethan schweigt. Wie soll er mir diese Frage auch beantworten, er ist schliesslich nicht allwissend und kann auch nicht die Zukunft vorhersagen. Ich rechne schon gar nicht mehr mit einer Antwort, als ich plötzlich doch noch eine bekomme. "Zwei Dinge solltest du nie verlieren, Kasia. Zum einen die Hoffnung, das alles irgendwann besser wir und zum anderen die Kraft, bis zu diesem Zeitpunkt durchzuhalten." Seine Stimme klingt warm und rau. Ich nehme seinen Geruch wahr, der sich in meine Nase geschlichen hat und mich nun vollkommen umgibt. Ethans T-Shirt, Ethans Bett, Ethans Anwesenheit, Ethan.

Ich drehe mich nun doch zu ihm um. Wegen des Mondlichts kann ich seine Gesichtszüge deutlich erkennen. Mein Blick fällt auf seine Wangenknochen, auf seine vollen Lippen, auf das Muttermal oberhalb seines Mundwinkels, auf seine perfekte Nase, auf seine dunklen Augenbrauen und schlussendlich landet er in seinen Augen. In seinen verdammten, grünen Augen, in denen ich mich jedes Mal verliere und nie ein Weg hinaus finde.
Ich schätze den Abstand unserer Gesichter auf zehn Zentimeter, wenn überhaupt. Wenn Ethan ausatmet, kann ich seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren. "Wie schaffst du das?", frage ich flüsternd. "Was meinst du?"

"Wie schaffst du es immer das richtige zu sagen. Du findest immer die richtigen Worte für mich, wie schaffst du das?"
"Ich kenne dich, Kasia. In- und auswendig", seine Stimme klingt behutsam. Er spricht ganz leise und sanft. "Auch wenn einige Jahre vergangen sind und wir uns beide ein Stück weit verändert haben, kenne ich dich. Ganz tief in dir drin, bist du nämlich immer noch dieselbe Kasia Gilbert."

Mein Herz macht einen Sprung, als er diese Worte ausspricht. "Ich danke dir."
"Du musst mir dafür nicht danken, dass..."
"Doch muss ich", unterbreche ich ihn direkt, "natürlich muss ich. Du hast deinen Freitagabend mit mir im Krankenhaus verbracht, wobei du bestimmt besseres vorhattest." Trotz der Dunkelheit kann ich sehen, wie seine Mundwinkel zucken. "Naja", sagt er, "ich wollte mir eigentlich das Spiel der Houston Rockets ansehen." Ich erwidere sein Lächeln. "Aber dass kann ich auch noch ein anderes Mal nachschauen", fügt er hinzu.

Obwohl ich nicht den Eindruck habe, dass sich einer von uns bewegt, so kommt es mir dennoch vor, als würde sich der Abstand zwischen uns immer weiter verringern. Mein Herzschlag beschleunigte sich, so wie er es immer tut, wenn Ethan in meiner Nähe ist. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich ihm das letzte Mal so nahe war. Doch, im Dungeon natürlich, aber da war nur diese körperliche Nähe zwischen uns. Jetzt war da auch wieder eine emotionale, seelische Nähe, so kommt es mir vor.

Meine Lider werden schwer. Als ich sie bereits geschlossen habe, spürte ich Ethans Hand, die mir durchs Haar fährt. "Schlaf gut", sagt er, ehe er mir einen leichten Kuss auf die Stirn drückt.

Lovely DarlingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt