21. Spontanität

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Spon.ta.ni.tät / Spon.ta.ne.i.tät.
Substaniv, feminin [die]
1. spontante Art und Weise; Impulivität
2. spontante Handlung, Äusserung

Der April geht schneller vorbei, als ich gedacht habe und ehe ich mich versehe ist es schon Mitte Mai. Ich habe eine Routine bekommen, habe Spass bei der Arbeit und versuche so wenig wie möglich an Ethan zu denken. Auch Liam konnte ich vergessen. Ich sage mir, was nicht sein soll, soll nicht sein und das scheint mir ziemlich gut auf die Situation zu passen. Die Blue Lagoon habe ich seit dem ich mit Nick da war noch zwei weitere Male aufgesucht. Nicht, weil ich gehofft habe, dass er da sein würde, sondern, weil die Cocktails dort gut und günstig sind.

Ethan hat anscheinend nicht gelogen, als er gesagt hat, dass er kaum Zeit in der WG verbringt, denn seit unserem Gespräch im Treppenhaus haben wir uns nicht wieder gesehen. Auch Taylor bekomme ich nur selten zu Gesicht, da sie ziemlich oft unterwegs ist und so gut wie jede Nacht bei ihm verbringt.

Jedes Mal wenn ich nach Hause komme, zähle ich die Schuhe, ehe ich in die Wohnung eintrete, um sicher zu gehen, dass Ethans nicht da sind. Denn ich weiss, sobald ich ihn sehe, würde meine Schutzmauer, die ich um mich herum erschaffen habe, zusammenbrechen und in Trümmern zerfallen. Das will ich auf keinen Fall. Das darf nicht passieren, denn ich bin mir sicher, dass das mein Ende bedeuten würde. Okay, vielleicht nicht mein Ende, aber es würde schon ziemlich nahe daran herankommen.

Ich komme gerade vom Einkaufen zurück. Neben simplen Lebensmitteln, habe ich meiner Mutter auch eine Flasche von ihrem Lieblingsrotwein besorgt, da sie morgen Geburtstag hat. Es ist das erste Mal, dass ich sie besuche, seit dem ich ausgezogen bin. Ich wollte ihnen eigentlich schon viel eher einen Besuch abstatten, doch irgendiwe habe ich nie Zeit dafür gefunden. Und wenn ich dann mal Zeit hatte, waren Mom und Michael beschäftigt.

Ich schliesse die Wohnungstür auf und öffne sie einen Spalt, damit ich meinen Kopf reinstrecken kann. Ich werfe einen Blick auf das Schuhregal. Joannas Schuhe sind nicht da, Taylors Schuhe auch nicht. Einzig und allein die von Harry befinden sich im Schuhregal. Zur Sicherheit blicke ich auch noch hinter die Tür, um wirklich sicher zu gehen, dass Ethans weisse Sneaker nirgends zu sehen sind. Ich atme erleichtert auf und traue mich schliesslich die Wohnung zu betreten. Kaum habe ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen lassen, lässt mich eine tiefe Männerstimme zusammenzucken. Diese kommt aus der Küche.

Erschrocken fahre ich zusammen. Harry steht in der Küche und hält eine gefüllte Müslischale in den Händen. "Was machst du da?" Ich halte inne. Scheisse. Was sage ich ihm denn jetzt? Dass ich mich vergewissert habe, dass Ethans Schuhe nicht da sind, kann ich ja schlecht zugeben.

"Musst du nicht arbeiten? Oder schlafen?", versuche ich deshalb seiner Frage auszuweichen. "Ich habe ausgeschlafen und mein nächster Termin ist erst in zwei Stunden." Sein Blick ist ernst, als er sich erneut einen Löffel Müsli in den Mund schiebt. "Was hast du da gerade gemacht?"

Ich streife mir die Schuhe von den Füssen und stelle sie fein säuberlich in das kleine Schuhregal. Neben die von Harry. "Seit wann bist du so neugierig?"

"Weich meiner Frage nicht aus, was hast du gemacht? Es sah so aus, als wolltest du dich reinschleichen." Ich geselle mich zu ihm in die Küche um meine Hände zu wachen. Darauf bedacht, seinen tättowierten Oberkörper nicht anzustarren.

"Ich wollte nur sicher gehen, dass ich keinen von euch beim Sex auf dem Küchentisch erwische", flunkere ich. An Harrys Gesichtsausdruck ahne ich, dass er mir nicht glaubt. Zum Glück fragt er nicht weiter nach. "Solange Taylor nicht zuhause ist passiert das nicht. Mach dir darübre mal keine Sorgen." Ich versteifte mich.

"Hast du Taylor und Ethan schonmal erwischt?" Es schmerzt seinen Namen in Zusammenhang mit ihrem auszusprechen. Er nickt. "Einmal und dann nie wieder. Also wie gesagt, mach dir keine Sorgen." Ich nicke langsam. Als ich die tättowierte achtundzwanzig auf seiner rechten Brust erkennen kann, deutete ich darauf und frage: "Hey, ist das neu?"

"Starrst du mich so genau an?"

"Weich meiner Frage nicht aus", parodiere ich Harry in einer tieferen Stimmlage und entlocke ihm so ein kleines Schmunzeln, ehe er nickt. "Willst du auch ein Tattoo? Wenn du willst kann ich dir vor meinem nächsten Termin noch eines stechen." Ich lege meinen Kopf leicht nach links und betrachte ihn skeptisch. Sein Blich wirkt irgendwie hoffnungsvoll. Leider muss ich ihn enttäuschen. "Dein Stil ist mir zu düster. Ich will nicht aussehen, als sei ich einer Heavy Metall Band entsprungen."

"Mein Stil ist nicht düster", wirft er ein, "sowas nennt sich Patchwork. Aber wenn du es lieber kitschig haben willst, dann kann ich dir auch ein kleines Herz stechen, oder ein Unendlichkeitszeichen." Bloss nicht, denke ich. Ehe ich etwas darauf antworten kann, schlägt mir Harry einen Deal vor. "Ich gehe in zwanzig Minuten los, wenn du bis dahin was Kleines gefunden hast, kannst du mitkommen und ich steche es dir. Wenn du nichts findest, was dir gefällt, dann nicht. Aber dann war es vielleicht das letzte Mal, dass ich dir so ein Angebot gemacht habe."

So kommt es, dass ich eine gute Stunde später auf eine der Liegen in Harrys Tattoostudio, SKINS, liege und Harry mit der Nadel auf meiner Haut entlang fährt. Ich spüre das leichte Brennen dort, wo die Nadel einsticht. Das Studio ist nicht besonders gross, überall stehen braune Ledersofas. Die Wände bestehen hauptäschlich aus Spiegeln. Alles in einem wirkt es sehr seriös und edel.

Ich weiss ja, dass ich spontan bin, aber diese Art von Spontanität ist selbst für mich etwas überraschend. Mein Bauchnabelpiercing habe ich mir beispielsweise ganz spontan an meinem fünfzehnten Geburtstag gestochen. Die ältere Schwester einer Freundin hat in einem Piercingstudio gearbeitet, weshalb sie es mir machte, ohne die Einverständniserklärung meiner Mom. Ein halbes Jahr hatte ich es vor ihr geheim halten können, doch dann sind wir in den Badeurlaub gefahren und ich flog auf. Drei Wochen Hausarrest hatte ich mir deswegen eingefangen und verpasste deshalb die Geburtstagsparty eines Freundes.

Nach dem Gespräch mit Harry habe mich direkt in mein Zimmer verzogen und komplett Pinterest nach einer Idee abgesucht und bin überraschenderweise schnell fündig geworden. Es ist mir jetzt nicht unangenehm, dass er mich im BH sieht. So scheu bin ich nicht.

"Fertig", sagt Harry zufrieden und wischt ein letztes Mal über meine dünne Haut. "Du kannst aufstehen und es dir ansehen." Ich gehorche ihm und stehe auf, um zu einem der vielen Spiegeln zu gehen. Die Stelle unterhalb meiner linken Brust, in der Nähe meines Herzens, zierte nun die Zahl 999. Eine Engelszahl. Harry hat die Zahl genau so gestochen, wie ich es mir gewünscht habe. Fein, aber dennoch dick genug, dass sie gut leserlich ist. Ich bin begeistert.

Er ist hinter mich getreten. "Was musst du denn freigeben?" Ich ziehe die Augenbrauen hoch. "Wie bitte?" Harry zieht sich die schwarzen Latex-Handschuhe von den Händen und deutet auf mein neues Tattoo. "Die 999 ist die Engelszahl für Freigabe."

"Woher weisst du das?" Ich habe Harry gar nicht so eingeschätzt, dass er an solche Dinge glaubt oder sich damit beschäftigt." Er seufzt. "Ich bitte dich. Ich bin Tättowierer. Was meinst du, wie oft ich schon Engelszahlen tättowiert habe? Da kenne ich die Bedeutungen mittlerweile in- und auswendig." Er kommt einen Schritt näher auf mich zu, so nahe, dass ich sein Parfüm riechen kann. Es riecht männlich und edel. Es riecht gut.

Mit sanften Fingern klebt Harry eine durchsichtige Klebefolie auf die 999, damit mein neues Tattoo gut geschützt ist und keine Bakterien auf die Stelle gelangen. Als er mir wieder tief in die Augen sieht, wird mir klar, dass er noch immer auf eine Antwort wartet.

"So ziemlich alles", sage ich schliesslich und ziehe mir mein T-Shirt wieder über.


Lovely DarlingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt