37. Harmonie

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Har.mo.nie
Substantiv, feminin [die]
ausgewogenes, ausgeglichenes Verhältnis von Teilen zueinander; Ausgewogenheit, Ebenmaß
innere und äußere Übereinstimmung; Einklang, Eintracht

Eine kühle Luft umfängt mich, als ich das Krankenhaus verlasse. Es ist inzwischen schon fünf Uhr, weshalb ich mich dazu entschieden habe, zu gehen. Einen kurzen Moment habe ich mich schlecht gefühlt, dass ich nicht rund um die Uhr bei Michael am Bett sitze und bete, dass er wieder aufwacht. Doch Mom hat mir versichert, dass ich mir keine Gedanken deswegen machen muss und sie noch eine Weile bei ihm bleibt.

Ein Krankenpfleger hat ihr sogar angeboten, dass sie ihr ein simples Bett zur Verfügung stellen können, wenn sie denn auch die Nacht neben Michael verbringen will.

Ich ziehe den Reissverschluss meiner Jacke hoch und stecke meine Hände in deren Seitentaschen. Einerseits kann ich es kaum abwarten, Ethan endlich wieder zu sehen, andererseits habe ich eine höllische Angst davor, was Taylor sagen wird. Wie sie reagieren wird.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ausziehen muss und selbst wenn Taylor das nicht von mir verlangen sollte, würde ich es trotzdem tun. Die Situation wäre einfach zu merkwürdig und die Stimmung dauerhaft angespannt. Nicht nur zwischen Taylor und mir, auch Harry und Joanna würden etwas davon abkriegen. Wie sie wohl reagieren werden? Vor allem Joanna? Neulich im Café haben wir so ein vertrautes Gespräch miteinander geführt, so dass ich den Eindruck gekriegt habe, dass wir noch enger zusammengewachsen sind. Wir sind Freundinnen, aber ob wir das nach der Enthüllung der Geheimnisse auch noch weiter sein werden?

Wie ich hier also Richtung Haltestelle laufe und mir den Kopf zerbreche, wird mir noch einmal mehr bewusst, was alles auf dem Spiel steht und was ich alles verliere. Nicht nur mein Zuhause, womöglich auch einen Teil meiner Freunde. Schreckliche Schuldgefühle machen sich bemerkbar und fressen kurz darauf ein riesiges Loch in meinen Magen. Das, was Ethan und ich getan haben, ist nicht richtig. Taylor hat das nicht verdient. Niemand hat es verdient betrogen zu werden.

Ich atme tief ein und wieder aus. In meinem Kopf herrscht völliges Chaos. Ich erinnere mich an die Worte meiner Mom, dass wir zuversichtlich sein müssen. "Mom hat Recht", murmle ich undeutlich vor mich hin. Es wird alles gut werden.

Als ich nur noch wenige Minuten von der WG entfernt bin, frage ich mich erneut, was mich wohl gleich erwarten wird. Wird Taylor mich anschreien? Wird sie weinend auf dem Boden kauern und sich von Joanna und Harry trösten lassen? Wird sie mich eiskalt ignorieren und mich keines Blickes würdigen? Hat sie in Rage meine Sachen womöglich schon aus meinem Zimmer geholt und auf dem Boden im Flur verteilt? Wird sie überhaupt da sein?

Ich entschliesse mich dazu Ethan anzurufen und kurz die Lage abzuchecken, nur damit ich vorbereitet bin auf das, was gleich auf mich zukommen wird. Meine Finger zittern, als ich das Handy aus meiner Gesäßtasche der Jeans hole und ich Ethans Nummer ins Display eingebe. Es klingelt, einmal, zweimal, dreimal, viermal, fünfmal. Dann springt die Mailbox an. Ich lege auf. Inzwischen stehe ich schon vor der Haustür.
"Da musst du jetzt wohl oder übel durch, Kasia", gebe ich mir Zuspruch und atme langsam tief ein und aus. "Wird schon werden."

Ich habe ja nicht gewusst, was mich erwartet, aber dass, was ich da vor mir sehe, als ich in die Wohnung eintrete, ist definitiv fernab von all meinen Erwartungen. Der Geruch von frischem Basilikum und Knoblauch liegt in der Luft. Die Lautsprecher geben eine gefühlvolle Jazz-Melodie von sich. Gelächter klingt aus der Küche. Es ist das Ebenbild der Harmonie.

Joanna wird als erstes auf mich aufmerksam. Sie stellt ihr gefülltes Rotweinglas auf der Küchentheke ab und kommt auf mich zu. Meine Hand liegt noch immer auf dem Türknauf und ich stehe noch immer auf der Türschwelle. Unfähig etwas zu sagen erwidere ich Joanna's herzliche Umarmung widerwillig. Ich registriere zwar dass sie mit mir spricht, doch ihre Worte kommen nicht bei mir an. Ich bin abgelenkt. Nämlich von Ethan, dem ich meine ganze Aufmerksamkeit schenke.

Meine Sinne erlauben sich keinen Scherz mit mir, denn es ist tatsächlich Ethan der da in der Küche steht und den linken Arm um Taylors Hüfte gelegt hat. Sein kurzer Blick in meine Richtung wirkt schuldbewusst. Sein Gesichtsausdruck zerknirscht. Er hat also noch nicht mit ihr gesprochen, und so, wie es momentan aussieht, hat er es heute Abend vermutlich auch nicht vor.

"Kasia?", Joanna wedelt mir der linken Hand vor meiner Nase hin und her. Schnell fasse ich mich wieder und ziehe gezwungenermaßen meine Mundwinkel nach oben, ehe ich die Tür hinter mir schliesse und mir die Schuhe von den Füssen zu streifen, damit ich sie an ihren Platz ins Regal stellen kann. "Wie geht es Michael?", wiederholt Joanna ihre Frage.

"Unverändert. Wir können nichts tun ausser abwarten", antworte ich schnell, um ihr gleich eine Gegenfrage stellen zu können. "Was ist den hier los? Feiern wir etwas?" Mein Herzschlag beschleunigt sich, als ich mit mich Joanna an die Küchentheke zu den anderen geselle. Es sind knapp zwei Meter, die Ethan und mich voneinander trennen. Harry drückt mir flüchtig einen Kuss auf die Wange, ehe er sich wieder dem brutzelnden Lachs in der Bratpfanne widmet. Zu meiner Überraschung ist es Taylor, die mir antwortet. "Ich dachte nur, nach der ganzen Aufregung die letzten Tage, könnten wir etwas Zeit als WG miteinander verbringen. Es war meine Idee."

Sie kommt auch mich zu und zieht mich in eine Umarmung. "Joanna und Harry haben mir erzählt, was passiert ist. Es tut mir so leid, Kasia. Wenn es etwas gibt, was ich für dich tun kann, sag es mir, okay?" Ich nicke, etwas perplex. Taylors Gesichtsausdruck erhellt sich, als ich ihr ein dankenden Lächeln schenke. "Wir wussten nicht, ob du nach Hause kommst, oder noch im Krankenhaus bleibst, aber wir haben trotzdem für dich mitgekocht. Lachs und italienische Pesto."

Obwohl mir in diesem Augenblick hundert Dinge einfallen würden, die ich heute Abend lieber machen würde, als mit Joanna, Harry, Taylor und Ethan an einem Tisch zu sitzen und gemeinsam zu Abend zu essen, tue ich es trotzdem. Zum einen weil sich mein Magen mit einem eindeutigen Knurren gemeldet hat, zum anderen, weil ich Taylor und Ethan nicht aus den Augen lassen kann und wissen will, wie sie miteinander agieren. Um so hoffentlich abzuschätzen, ob sich Ethan nochmal umentschieden hat und doch bei Taylor bleibt. Doch er wirkt mich keines Blickes. Ob dies schlichtweg gute Tarnung ist, oder aus Schuldgefühlen hervorgeht ist mir unschlüssig.

Joanna, die rechts neben mir sitzt, lehnt sich zu mir rüber. "Wenn es dir zu viel wird, oder du lieber alleine sein möchtest ist das in Ordnung", flüstert sie mir zu. Ich greife nach ihrer Hand und drücke sie leicht. "Alles gut", versichere ich ihr. Joanna nickt erleichtert. "Wir dachten bloss, es wäre vielleicht hilfreich wenn wir versuchen dich abzulenken." Das ist es tatsächlich. Obwohl natürlich gerade nichts in Ordnung ist, bin ich froh, dass hier in der WG eine mehr oder weniger entspannte Stimmung herrscht. So wandern meine Gedanken nicht ständig zu Michael und sogar Harrys Erzählungen über neue Tattoomotive lenken mich von dem Fakt ab, dass Taylor keine drei Meter von mir entfernt ihren Kopf an Ethans Brust schmiegt.

Sein Blick kreuzt meinen. Ich versuche ihn ohne Worte zu fragen, was los ist, was passiert ist. Ethans Ausdruck wirkt gequält, aber etwas darin sagt mir, dass er es mir so bald wie möglich erklären wird. Ich nicke kaum merklich.

Im grossen und ganzen verläuft der Abend ziemlich harmonisch, mit einigen kurzen Momenten einer unbehaglichen Stimmung. Nachdem ich mit Harry die Küche sauber gemacht habe führe ich noch ein kurzes Telefonat mit meiner Mom. Sie wird die Nacht tatsächlich bei Michael im Krankenhaus verbringen. Sie muss mir versprechen, dass sie mich sofort anruft, wenn sich auch nur eine winzige Kleinigkeit an seinem Zustand verändert oder es sonstige Neuigkeiten gibt.

Taylor und Ethan sind die ersten, die eine gute Nacht wünschen und sich in Taylors Zimmer zurückziehen. Beinahe fällt mir die Kinnlade runter, so perplex bin ich. Will Ethan jetzt allen ernstes bei Taylor schlafen, im Zimmer neben meinen? Nachdem wir letzte Nacht miteinander geschlafen haben und er mir noch heute Morgen versichert hat, Taylor die Wahrheit zu sagen?

Womöglich sollte ich mich darauf einstellen, dass Ethan und ich doch keine gemeinsame Zukunft miteinander haben werden, doch das fällt mir schwerer als gedacht. So lange er mir nicht ins Gesicht sagt, dass er mit Taylor zusammenbleibt, halte ich mich an den Funken Hoffnung fest. Egal wie klein er ist.

Lovely DarlingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt