19. Verhör

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Ver.hör
Substantiv, neutrum [das]
eingehende richterliche oder polizeiliche Befragung einer Person zur Klärung eines Sachverhaltes; Vernehmung

Auf dem Weg nach Hause rege ich mich noch immer über die Frau an Tisch neun auf. Wahrscheinlich ist sie gerade in ihrer Midlife Crisis und hat entweder nur schlechten Sex mit ihrem Ehemann oder gar keinen. Ich gehe davon aus, dass sie mindestens zwei Kinder hat, wobei es eher vier sind, die ihr alle Nerven und Geduld zu rauben scheinen. Dazu ist sie bestimmt im Elternrat der Schule und zweimal die Woche beim Yoga. Weil sie zuhause die glückliche Mom und Ehefrau spielen musste, hat sie nirgends einen Ort, an dem sie ihre aufgestaute Wut raus lassen kann.

Deshalb, und nur deshalb hat sie sich heute im Allure aufgeführt wie das allerletzte Miststück. Mein Service ist nicht schlecht. Das ist keinesfalls eingebildet gemeint, sondern nur ehrlich. Bei den vierzehn Tischen, die ich heute bedienen musste, hatte ich alle Hände voll zu tun und weil sie dann ein paar Minuten länger auf ihren Rotwein warten musste, ist das noch lange kein Grund, mich vor allen Gästen zusammenzustauchen.

Wenn das schon alles gewesen wäre. Ihr Essen hat sie zweimal zurückgegeben. Das Steak zu blutig, das Gemüse zu salzig. Das ist an sich natürlich kein Problem und normalerweise habe ich nie ein Problem damit, wenn Gäste ihr Essen zurückgeben, aber bei dieser Frau hatte es mich gestört. Dann wollte sie doch noch etwas Salz haben, dann noch etwas Pfeffer, noch mehr Wein, ein wenig Öl für die Bratkartoffeln, ein neues Messer, da ihres einen Wasserfleck hat und ein neues Glas, weil unten ein winziges Stück abgesplittert ist. Ich habe nicht mitgezählt wie oft ich nacheinander an ihren Tisch gelaufen bin um ihre Wünsche zu erfüllen. Kaum habe ich A gebracht, hat sie auch schon nach B verlangt.

Zum Schluss, natürlich gab es kein Trinkgeld, wollte sie mit Sandler sprechen und hat mich als faul und langsam betitelt. Ein Glück kennt Sandler mich gut genug und weiss, dass ich hart arbeite und immer hundert Prozent gebe. Er hat ihr dann auf eine höfliche und respektvolle Art erklärt, dass sie nicht mehr ins Allure kommen muss, wenn sie mit dem Service und dem Essen nicht zufrieden gewesen ist. Mit einem kurzen Kopfnicken in meine Richtung, hat er mir versichert, dass ich mir keine Gedanken machen muss.

Mit dem Fahrrad zuhause angekommen, versorge ich es wie immer im Keller, aus Angst jemand würde es mir vor der Haustür, abgeschlossen natürlich, wegstehlen. Ich seufze erleichtert, als ich die Kellertür hinter mir zuziehe. Ein grosses Glas Wein war genau das, was ich jetzt brauche. Dazu würde ich mich mit einem Buch oder einer Zeitschrift auf die Couch setzen.

Ich zähle insgesamt sechzehnTreppenstufen, als sich ein Schatten vor mir auf den Boden wirft. Ich nehme den Geruch seines Deodrants wahr und keine Sekunde später stellen sich sämtliche Härchen an meinem Körper auf. Ich weiss, wer da vor mir steht, noch ehe ich meinen Kopf hebe. Sein Blick, der auf mich fällt, ist skeptisch. "Auch mal wieder da?"

"Und du schon wieder", stelle ich fest, ohne auf seine Frage einzugehen. Ich muss meinen Kopf noch mehr in den Nacken legen als sonst, was daran liegt, dass Ethan zwei Treppenstufen über mir steht und somit noch grösser ist. "Wollte aber gerade gehen."

"Wollte?"
"Will", korrigiert er sich. Und so stehen wir da einen Moment lang schweigend in dem engen Treppenhaus. Die Lampen, die an den Wänden hängen, geben ein so schwummirges Licht von sich, dass man sie auch gleich hätte weglassen können. Ethans Lippen teilen sich und noch ehe er etwas gesagt hat, weiss ich, welche Worte gleich seinen Mund verlassen werden. "Ich wusste nicht, dass du das Top noch immer hast."

Da ich vermute, dass das eine längere Konservation wird, stütze ich meine linke Hand auf dem Treppengeländer ab. "Ich hatte es eine Weile nicht mehr an." Ethan nickt langsam und macht schliesslich: "Hm."
"Was ist?", ich runzel die Stirn. "Wenn du es zurückhaben willst kann ich..."

"Kasia", unterbricht er mich. "Sei nicht albern. Du kannst es behalten. Was soll ich denn damit? Anziehen?" Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Ich weiss nicht, ob es an Liam liegt oder in irgendeiner Weise mit ihm zu tun hat, aber das Kribbeln auf meiner Haut, die Schmetterlinge in meinem Bauch und das Klopfen meines Herzens sind heute nicht so stark wie sonst, wenn ich Ethan sehe.

"Wo hast du diese Nacht geschlafen?" Seine Arme verschränken sich vor seiner Brust, was wohl einen bedrohlichen Eindruck auf mich machen, oder mich einschüchtern soll. "Wusste nicht, dass du Polizist bist. Normalerweise führen die immer so ein Verhör." Er schnaubt. "Das ist doch kein Verhör."

Nun verschränke auch ich meine Arme. "Woher weisst du eigentlich, dass ich nicht hier geschlafen habe? Hast du etwa nachgesehen?"
"Deine Schuhe waren nicht da."

"Du hast also nachgesehen, ob meine Schuhe im Regal stehen oder nicht?" Auf der einen Seite finde ich das komisch, dass Ethan nach meinen Schuhen Ausschau gehalten hat, aber auf der anderen Seite finde ich es irgendwie... süss. Ich bedeute ihm allem Anschein noch was, sonst wäre es ihm ja egal.

"Ich habe nicht nachgesehen. Ich habe es nur durch reinen Zufall bemerkt." Ich kann ihm im Gesicht ablesen, dass er lügt. Er ist noch nie gut im Lügen gewesen und ich bin schon immer gut darin gewesen, Lügen aufzudecken. "Also. Wo hast du geschlafen?", wiederholt er die Frage.

"Das geht nichts an, Ethan." Natürlich kann ich ihm die Wahrheit sagen, oder ich kann sagen, dass ich bei Quinn geschlafen habe. Doch das tue ich nicht. Zugegeben, ich würde gerne sein Gesicht sehen, wenn er erfährt, dass ich die Nacht bei einem anderen Mann verbracht habe, aber auf solche Kinderspielereien habe ich keine Lust. Die Sache mit dem absichtlichen eifersüchtig machen ist unnötig. Es braucht Ethan ganz einfach nicht zu interessieren, wo ich die Nacht verbracht habe, dementsprechend werde ich ihm auch keine Antwort liefern.

Ethans Gesichtsmuskeln spannen sich an und ich kann an seinem Kiefer deutlich erkennen, dass er die Zähne fest aufeinander beisst. Dann nickt er leicht, so als würde er verstehen und mein Schweigen anerkennen. "Na dann", presst er hervor, ehe er sich an mir vorbei drängt und die restlichen achtzehn Treppenstufen runterläuft. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, doch es kommt mir vor, als wäre er extra nahe an mir vorbeigegangen, fast so, als wollte er mich anrempeln. Als ich höre, wie die Eingangstür ins Schloss fällt, habe ich mich noch keinen Milimeter von der Stelle bewegt.

Lovely DarlingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt