0. Abschied

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Ab.schied
Substantiv, maskulin [der]
Trennung von jemanden, etwas

August 2019

Abschiede sind mir noch nie sonderlich schwer gefallen. Nicht an meinem ersten Schultag, nicht als ich mit acht Jahren für vier Wochen in ein Sommercamp gefahren bin und auch nicht, als ich mit zehn Jahren mit meiner Mutter nach Houston gezogen bin und ich all meine Freunde in Oklahoma zurücklassen musste. Ich habe immer das positive gesehen und mich auf mein neues Zuhause gefreut. Ich war von Natur aus optimistisch gestimmt. Schon immer.

Der Moment, indem mein Dad seine Koffer packte und meine Mutter und mich verlassen hat, wäre vermutlich der einzige Abschied, den ich nicht schulterzuckend hinnehmen konnte. Doch an diesen Moment kann ich mich kaum erinnern. Ich bin damals fünf Jahre alt gewesen und habe in den vergangenen Jahren meines Lebens nie das Gefühl gehabt, dass er mir fehlen würde. Schon gar nicht als meine Mutter Michael kennenlernte. Er war der Grund, weswegen wir nach Houston gezogen sind. Obwohl er die Vaterrolle eingenommen hat, habe ich ihn nie mit Dad angesprochen.

Doch dieser Abschied, der ist anders. Es ist der erste Abschied, der mir schrecklich schwer fällt. Vor wenigen Wochen habe ich mein Abschlusszeugnis in die Hand genommen, dem Schuldirektor die Hand geschüttelt und die Highschool hinter mir gelassen. Für mich geht es nun weiter, denn ein neuer Lebensabschnitt beginnt.

Zu meinem vierzehnten Geburtstag hat mir Michael ein Buch geschenkt, in dem die Autorin von ihren Abenteuern erzählt, die sie auf ihrer Weltreise erlebt hat. Seit dem steht für mich fest, dass ich das auch erleben will, und die Welt bereisen möchte. Seit dem habe ich auch jeden Dollar gespart, habe die Hunde der Nachbarn Gassi geführt und später in einem kleinen Café gearbeitet. Aber da kannte ich Ethan noch nicht.

Ethan Duvall und ich haben uns 2015 auf der Silvesterparty meiner besten Freundin Olivia Thompson kennengelernt. Es sollte eigentlich nur eine kleine Party werden, doch dann stand plötzlich Olivias Cousin Noah vor der Tür, einige seiner Freunde im Schlepptau, inklusive Ethan. Ich bin damals 15 Jahre alt gewesen, Ethan siebzehn.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie er mit einer Flasche Tequila im Türrahmen stand und seinen Blick durch das Zimmer schweifen liess. Als seine Augen mich fanden, blieben sie an mir haften und auch ich konnte meinen Blick nicht mehr von ihm lösen. Später an besagtem Abend kam er mit zwei Shots auf mich zu und obwohl ich meiner Mutter versprochen hatte, keinen Alkohol zu trinken, kippte ich die Flüssigkeit dennoch meine Kehle herunter. Ethan und ich unterhielten uns eine halbe Ewigkeit. Er erzählte mir von seiner Vorliebe für Kunst und Fotografie und ich erzählte ihm von meinen Plänen, die Welt entdecken zu wollen.
Als es dann soweit war und wir alle von zehn runterzählten, zog er mich an sich und legte seine Lippen bei null auf meine. Eine Woche später bat er mich darum, mit ihm auszugehen. Ins Kunstmuseum. Anfang Februar waren wir dann offiziell zusammen. Richtig kitschig romantisch.

Aber wie schon gesagt, dieser Abschied heute ist anders. Ich habe nicht genug Mut und auch nicht genug Kraft, mich von Ethans starkem und muskulösem Körper zu lösen, denn ich weiss, dass dies für lange Zeit die letzte Umarmung sein wird. Fast macht sich eine kleine Erleichterung in mir breit, als er diesen Part übernimmt und mich ganz sanft von sich weg schiebt.

Der Geruch von Rasierwasser, Motoröl und Head and Shoulders bleibt in meiner Nase zurück. Noch immer fühle ich seine grossen Hände an meinem Rücken.

Ethan hebt die Hand und legt sie an meine Wange. Sanft fährt sein Daumen auf meiner Haut auf und ab. "Ich bin so stolz auf dich, Kasia. Das weisst du."

Seine tiefe Stimme, welche meinen Namen so liebevoll ausspricht, erwärmt mein Herz. "Und du bist mir auch wirklich nicht böse?", frage ich, und obwohl er mir schon hundertmal versichert hat, dass er mir nicht böse ist, lässt mich das Gefühl nicht los, dass er es doch ist.

"Weil du die Welt bereisen willst? Nein, natürlich nicht. Ich wäre ein miserabler Freund, wenn ich dich davon abhalten würde. Es sind doch nur sechs Monate. Die vergehen schneller als du denkst."

Diese sechs Monate haben zwei unterschiedliche Wirkungen auf mich. Zum einen sind sechs Monate zum Bereisen der Welt, viel zu wenig. Auf der anderen Seite fühlen sich sechs Monate, in denen ich fast Neuntausend Meilen von Ethan entfernt bin, an, wie eine ganze Ewigkeit.

In den vergangenen Wochen habe ich mich ständig gefragt, ob meine Entscheidung die richtige ist, doch ich wurde keiner Antwort fündig. Ich liebe Ethan über alles, daran bestehen keine Zweifel und ich bin mir auch genauso sicher, dass ich den Rest meines Lebens mit ihm verbringen will. Doch hält mich meine unendliche Liebe zu ihm nicht davon ab, meine Träume zu verwirklichen. Zumal diese Träume länger bestehen, als wir.

Ich weiss, dass ich mich zuerst frei fühlen muss. Für einen kurzen Moment. Für Sechs Monate.

"Wir schaffen das", flüstere ich und stelle mich auf die Zehenspitzen, um seinem Gesicht näher zu sein. Da er allerdings einen ganzen Kopf grösser ist als ich, bringt das nicht sonderlich viel. Er beugt sich zu mir herab und legt seine Stirn an meine. "Wir schaffen das."

Ich senke die Lider, und blinzle so die Tränen weg, die in meine Augen gestiegen sind. Ich kann jetzt nicht weinen. Meine Tränen würden den ohnehin schon schweren Abschied keineswegs erleichtern.

"Versprich mir, gut auf dich aufzupassen."
"Ich verspreche es."
"Und versprich mir, ganz viele Postkarten zu schreiben, die ich aufhängen kann."
"Versprochen", ich lächle gequält, als ich an sein WG-Zimmer mit den bereits vollgeklebten Wänden dachte. "Ich weiss was du gerade denkst." Er kneift mich spielerisch in die Seite und ich schreie lachend auf. "Ich werde schon einen Platz finden."
"Und sonst muss halt das The Fray Poster daran glauben." Ohne zu zögern, schüttelt er seinen Kopf mit den schwarzen Haaren. "Auf keinen Fall, dann schon eher die Houston Texans Karten."

Er wird wieder ernst. "Nun geh schon Kasia, du musst noch durch die Sicherheitskontrolle." Schweren Herzens muss ich mir eingestehen, dass er Recht hat. Es wird Zeit zu gehen. Ich sage Ethan, dass ich ihn über alles liebe und ich ihn jeden Tag vermissen werde und auch er sagt, dass er mich liebt und mich genauso vermissen wird.

Ich schultere meinen Rucksack und ehe ich ihm den Rücken zukehre, küsse ich ihn ein letztes Mal.
Ein aller letztes Mal.

Lovely DarlingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt