Kapitel 11- Jake?

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Kapitel 11 – Jake ?

Bevor sie sich einer neuerlichen Auseinandersetzung stellte, trat Sevil erst einmal ins Badezimmer, schloss die Tür hinter sich und atmete, an das massive Türblatt gelehnt, tief durch. Dann wusch sie sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser und kehrte erst dann in den kleinen Wohnraum zurück, ließ sich auf den Stuhl am Tisch sinken und schaltete den Bildschirm ein.
Da saß er. Reglos und ohne ein Wort zu sagen, saß er einfach nur da und hatte dem Monitor das Dunkel der Kapuze zugewandt. Sah er sie an oder sah er durch sie hindurch? War er wütend? Beleidigt?
Es machte sie rasend nichts zu sehen. Sich nur mit dieser verfluchten Schwärze zu unterhalten.
„Tu das nie wieder."
Selbst durch die elektronische Verzerrung konnte sie den Tonfall erkennen.
„Ich kann nicht einmal sagen was genau ich gemacht habe.", gab sie zurück und lehnte sich zurück.
„Allein in den Wald zu gehen war leichtsinnig und dumm. Hätte ich dein Signal nicht beobachtet hätte niemand gewusst dass du dort bist."
Sie atmete tief durch und ignorierte die Tatsache, dass er sie tatsächlich auf Schritt und Tritt überwachte.
„Ich hatte nicht vor mich in Gefahr zu begeben."
Die Kapuze neigte sich leicht und deutete somit ein Nicken an. Dann lehnte auch er sich ein wenig zurück sodass er entspannter wirkte und ein wenig der Spannung wurde von ihr genommen.

„Du hast meinen Bruder getroffen.", stellte sie fest.
„Das habe ich. Mehrmals."
Da waren so viele Fragen. Doch sie bildeten ein solches Durcheinander dass es ihr nicht gelang eine davon heraus zu picken.
Dennoch schien er genau zu wissen was sie wollte.
„Ich weiß nicht wer die Nummer deines Bruders gesendet hat.", begann er. „Aber dieser Umstand hat sofort meine Aufmerksamkeit erregt. Und mit der Zeit wurde er das was einem Freund noch am nächsten kam, auch wenn es damit immer gefährlicher wurde."
Darüber hatte sie etwas in Michaels Notizen entdeckt. Verschlüsselt und ohne wirklich Namen zu nennen, aber er hatte sich ganz offensichtlich um den Anderen gesorgt und sich Gedanken darüber gemacht, wie er ihm helfen konnte.
„Dank ihm konnte ich zurückkehren. Er hat mir einen sicheren Ort geschaffen, als ich ihn am dringendsten brauchte und war da, als ich allein gewesen wäre. Und er hat mir viel von dir erzählt."
Sie schluckte schwer, schwieg aber um ihn nicht zu unterbrechen. Und darüber schien er regelrecht erleichtert zu sein.

„Die ganze Zeit haben wir nach Spuren gesucht und ohne seine Hilfe wäre ich nie im Leben soweit, wie ich jetzt bin. Hast du dir alles angesehen?"
Sevil nickte. Während sie ihm zuhörte, begann sie auf dem Block neben sich herum zu zeichnen. Eine Angewohnheit, über die ihr Bruder sich immer amüsiert hatte. Und er liebte ihre ‚Gedankenkritzeleien'.
„Dann bist du auf dem aktuellen Stand?"
„Ich denke schon. Ihr habt eure Verdächtigen nach und nach abtelefoniert, überprüft, ausgeschlossen. Aber bisher hat sich jeder Verdacht halbwegs widerlegen lassen. Aber...."
Sie zögerte. Der Unbekannte beugte sich vor.
„Aber was?"
Still wägte sie ab. Dann erhob sie sich und trat an ihren Rucksack.
„Bevor er nach Duskwood aufgebrochen ist, war er bei mir und hat mir etwas in den Briefkasten geworfen.", sagte sie langsam von ihrer Tasche aus und kehrte mit ihrem wohl behütetsten Schatz zum Laptop zurück. Dann hielt sie den kleinen, abgegriffenen Notizblock in die Kamera, sodass er ihn sehen konnte.
„Michael und ich haben Beide eine Marotte wenn uns etwas beschäftigt. Ich kritzele vor mich hin, verarbeite meine Gedanken in Zeichnungen und Michael....kritzelte Stichworte. Ohne Bezug sind es nur willkürliche Worte, zusammenhanglos dicht an dicht auf ein Blatt Papier geschrieben. Wenn man den Bezug aber kennt und vielleicht sogar noch Hintergrundmaterial hat..."
„Kann man durchaus nachvollziehen was er gemeint hat.", vollendete er den Satz und nickte.
„Genau.", stimmte sie zu. „Und ich glaube er hatte durchaus einen begründeten Verdacht, den er sich wirklich gut überlegt hat. Er war dabei alles zusammen zu tragen und hätte dann vermutlich mit dir gesprochen...aber...ist dir klar was es bedeutet dass er diesen Block vor seiner Abfahrt zurück gelassen hat?"
Stille. Sie konnte regelrecht dabei zusehen wie ihm die Tragweite ihrer Worte bewusst wurde auch ohne sein Gesicht zu sehen.
„Du meinst...er hat befürchtet nicht zurück zu kommen?"
Sie nickte und blätterte die Seite auf, die ihr besonders wichtig erschien weil sie nun, mit all den Notizen, einen Bezug herstellen konnte.
„Ihr hattet Richy in Verdacht.", sagte sie ernst. Er reagierte nicht, aber das war auch gar nicht notwendig.
„Aber Michael hat noch eine ganz andere Richtung verfolgt. Er ist zum Ursprung zurück gekehrt und hat damit begonnen Hannas Verbindungen zu betrachten."
Er lauschte schweigend mit leicht schief gelegtem Kopf.
„Er war sich sicher dass Richy in die Sache verwickelt war, hat ihn aber nicht für den Täter gehalten."
„Das verstehe ich nicht."
„Wie könntest du? Dir fehlt ein wichtiger Kontext. Michael war schon unterwegs BEVOR Richy angegriffen worden ist. Das Notizbuch lag am Morgen des Tages in meinem Briefkasten. Und hier!"

Sie hielt die entsprechende Seite zur Kamera gewandt und tippte auf eine Wortreihe in der Mitte.

Richy? Täter? Opfer! Erpressung? Vertuschung? Gefahr!

Sie ließ ihm Zeit das Ganze zu studieren. Und erst als er sich wieder zurück lehnte und damit begann zu tippen, ließ sie es wieder sinken.
„Richy ist ein treuer Kerl, der unauffällig und ein wenig Konfliktscheu ist. Er ist derjenige der versucht die Harmonie in der Gruppe zu halten und versucht jedem Ärger aus dem Weg zu gehen. Ihm liegt das Wohl der gesamten Gruppe, inklusive Hannah, am Herzen.", fasste sie ihre Schlussfolgerungen zusammen. „Ich bin mir nach allem, was ich jetzt gelesen habe, sehr sicher dass Richy beteiligt ist.Es ist ein Fakt, dass er durchaus nützlich für den Entführer sein könnte. Er ist leicht beeinflussbar, vor allem wenn man das richtige Druckmittel gegen ihn in der Hand hat. Und das hat er."

„Du meinst Hannah? "hakte er nach und bewies, dass er ihren Ausführungen folgen konnte.

„Auch. Er hatte aber noch mehr zu bieten. Nehmen wir an dass Dan Recht hatte und sich jemand an seinem Wagen zu schaffen gemacht hat. Dazu die Drohung gegen Cleo und der Überfall auf Hannah. Damit hat der Entführer bewiesen dass er an wirklich jeden heran kommt."

Er schwieg eine Weile. Dann begann er langsam zu nicken.
„Er hätte seine Drohung also durchaus glaubhaft rüber bringen können. Aber...was?"
Sevil zuckte die Achseln.
„Dass er Hannah etwas antut? Oder einem der Anderen. So etwas wie: Hannah habe ich schon und du weiß wozu ich fähig bin. Tu was ich sage oder XY ist der Nächste. Etwas in dieser Art."

„Und was, denkst du, hat er tun sollen?"

Wieder hielt sie den Block in die Höhe und tippte auf das Wort ‚Vertuschung'.

„Ich glaube der Täter hat einen Zeitplan. Es ist ihm also wichtig solange im Verborgenen zu arbeiten wie er es für nötig hält. Zwar ist er bei Jessy aktiv aufgetreten aber ich glaube das war eher eine Art Kurzschlussreaktion. Bei Cleo hat er nur dafür gesorgt das man ihn ernst nimmt. Bei Dan aber wollte er den Freundeskreis beschäftigen ohne dass man die Spur zu ihm zurückverfolgen kann und da kam Richy ins Spiel. Außerdem denke ich der Rabe an seiner Garage war keine Drohung sondern ein Zeichen."

„Ein Zeichen?"

„Ja. Ich denken das war das Signal für irgendetwas. Ich denke dass er zu aller erst zu Richy Kontakt aufgenommen hat. Entweder weil er ihn kennt und weiß wie er ihn beeinflussen kann, oder weil jeder Schritt bisher geplant war und er wusste dass er ihn brauchen würde, Alles Folgende waren...Beweise."

„Dafür dass er ihn ernst nehmen sollte."

Sie nickte. Und auch er nickte langsam und schien sie zu fixieren.

„Jetzt weiß ich warum es deinen Bruder so nervös gemacht hat etwas vor dir zu verheimlichen."
Der Hauch eines Lächelns umspielte ihre Lippen, verschwand aber schnell wieder.
„Richy ist sehr wahrscheinlich in das ganze verwickelt. Vielleicht sogar viel mehr als man annehmen könnte."
Sie zögerte und atmete durch. Es war gewagt, was ihr da gerade durch den Kopf ging und dennoch musste sie es aussprechen.
„Dan hat ihn selbst gebeten sein Auto zu prüfen, da war es ein leichtes für ihn. Aber... bei meinem Bruder war es etwas anders. Man konnte Fremdverschulden nicht ausschließen und wollte weitere Untersuchung vornehmen. Aber bevor es dazu kam brannte der Wagen vollkommen aus. Und dabei wurde nur eine Person verletzt. Ein Praktikant, der von außerhalb kam."

„Und du denkst das war Richy?"
„Wäre möglich. Wann ist er aus dem Krankenhaus gekommen?"
„Das weiß ich nicht genau. Ich weiß aber dass er nicht durchgehend in Duskwood war. Das prüfe ich nach. Aber....er mochte deinen Bruder."
Sie nickte.
„Ich glaube auch nicht dass er das Auto manipuliert hat. Weder bei Dan noch bei Michael. Ich glaube Michael war der Meinung er wäre nur zur Vertuschung zuständig. Dazu einem seiner Freunde etwas anzutun, hätte der Entführer ihn nicht bekommen. Und wenn er noch so viel Druck ausgeübt hätte."

Er schwieg wieder. Ließ sich vermutlich alles noch einmal durch den Kopf gehen und straffte sich dann.
„Das finde ich heraus.", verkündete er. „Gute Arbeit, Sevil."
„Lass mich wissen wenn du etwas herausgefunden hast. Und pass auf dich auf, Unbekannter."
„Jake."
„Was?"
„Mein Name ist Jake."
Es brauchte einen Moment bis sie realisiert hatte was gerade geschehen war und nickte langsam.
„Gut...also pass auf dich auf, Jake."

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